Die Bilder wurden noch nicht in die Welt gesendet, aber es braucht wenig Fantasie, um sie sich vorzustellen. Dort, wo sich ansonsten die gelbe Wand auftürmt, wird eine rote Wand entstehen, in der Menschenmasse werden außerdem weiße Halbmonde und weiße Sternchen auftauchen. In der Nahaufnahme werden die Fernsehkameras leidende, ekstatische, angespannte Gesichter einfangen; die Gefühlsregungen können je nach Spielverlauf variieren, die Augen der Fans werden jedenfalls immer leidenschaftlich lodern. Die Bilder werden eine so deutliche Sprache sprechen, dass sie an Deutlichkeit höchstens von den Sprechchören von den Rängen überboten werden können: „Türkiye! Türkiye! Türkiye!“, wird es von der roten Wand hinab schallen, und auch die Menschen auf den übrigen Tribünen werden gewiss keine Ruhe geben.

An diesem Dienstag startet die Türkei in eine EM, die sich nur dann heimischer anfühlen könnte, wenn sie zwischen Bosporus und den Quellflüssen des Tigris ausgetragen werden würde. Der Auftakt gegen Georgien (18 Uhr) und die folgende Partie gegen Portugal am Samstag finden in Dortmund statt, im Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem hierzulande die meisten Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zu Hause sind. Etwa eine Million sollen es sein. Das dritte, womöglich entscheidende Vorrundenduell mit Tschechien ist in Hamburg angesetzt. Auch hier wird sich das türkische Nationalteam über mangelnde Unterstützung kaum beklagen können.

DFB-Elf:Aus dem Hintergrund müsste Deutschland schießen
Nagelsmanns Ballermänner: Die deutsche Nationalmannschaft belebt im Auftaktspiel die Tradition des Scharfschusses neu. Das ist kein Zufall, sondern Teil eines Plans – und hat einen festen Platz im Trainingsprogramm.
Wie man bei Spielen in Deutschland die Hausmacht erlangt, haben die Türken bereits im vergangenen November erprobt, beim 3:2-Sieg gegen die DFB-Elf. Vor Anpfiff zelebriert mit einem Fanmarsch zum Berliner Olympiastadion; nach Abpfiff mit frenetischen Jubelszenen und einem Autokorso am Kurfürstendamm. Irritationen hat es auch gegeben, zumindest in der deutschen Öffentlichkeit, aber über teilweise entlastende Indizien wurde damals weniger diskutiert: Jeder deutsche Ballkontakt wurde von lauten Pfiffen begleitet – ein Affront, fanden einige, mindestens mal eine unhöfliche Geste. Pfiffe jedoch gehören in der türkischen Fankultur dazu. Wenn Fenerbahce im Istanbul-Derby bei Galatasaray im Ali-Sami-Yen-Stadion ran muss, klingt das nicht anders.
Verbandsvorstand Altintop mahnt, der Fußball dürfe nicht „in ein Schlachtfeld“ verwandelt werden
Bizim Cocuklar wird das Nationalteam in der türkischen Heimat genannt, das bedeutet so viel wie „unsere Kinder“. Unartigkeit, sprich: Niederlagen werden von der Anhängerschaft aber nicht toleriert, da kann die Stimmung auch mal erbarmungslos werden. Dabei sein wollen erst einmal natürlich trotzdem alle, als heimlicher Gastgeber des Turniers ist Präsenz obligatorisch: Auf dem Schwarzmarkt werden für Tickets für Gruppenspiele der Türkei bis zu 1000 Euro aufgerufen – und dem Vernehmen nach bezahlt.
Die Erwartungen, die aufs türkische Team drücken, sind dementsprechend gewaltig. Womöglich sah sich Verbandsvorstand Hamit Altintop, geboren in Gelsenkirchen und einst Spieler beim FC Schalke 04 und beim FC Bayern, auch deshalb bemüßigt, im türkischen Teamquartier in Barsinghausen eine kleine Grundsatzrede zu halten. „Ich akzeptiere diesen Druck im Fußball nicht“, mahnte Altintop, „Fußball ist ein Unterhaltungssektor.“ Das dürfe nicht vergessen werden, zumal es ohnehin keinen Grund gebe, den Fußball in „ein Schlachtfeld“ zu verwandeln. Ein wenig martialisch klang das, aber Altintop weiß, wovon er spricht.
Die heimische Liga, die türkische Süper Lig, durchlebt gerade eine Krisenphase, die sich längst zur allgemeinen Glaubenskrise ausgewachsen hat: Spaltung überall, eine Atmosphäre bestimmt von Skandalen, Misstrauen und Gewalt.
„Okkultes Netzwerk“: Die türkische Süper Lig steckt in einer tiefen Krise
Ein unvollständiger Überblick der Eklats, die sich allein in den vergangenen Monaten zugetragen haben: Gewaltbereite Anhänger von Trabzonspor attackierten Spieler von Fenerbahce; Ankaragücü-Präsident Faruk Koca brach einem Schiedsrichter per Faustschlag das Jochbein, der Spielbetrieb wurde daraufhin ausgesetzt. Knapp eine Woche später provozierte der Präsident von Istanbulspor den nächsten Spielabbruch, wieder wegen einer vermeintlichen Fehlentscheidung.

Und dann sind da noch die Istanbuler Stadtrivalen Gala und Fener, in inniger Feindschaft verbunden seit mehr als 100 Jahren, zumindest, was den harten Kern der Fans anbelangt. Und die aktuellen Verantwortlichen setzten diese Traditionslinie konsequent fort: Rekordmeister Fenerbahce verbreitete zuletzt Manipulationsvorwürfe gegen den diesjährigen Champion Galatasaray; Fener-Präsident Ali Koc sprach gar von einem „okkulten Netzwerk“ zwischen Schiedsrichtern und dem Verein. Beim Supercup-Finale zwischen den beiden Klubs trat Fener im April mit einer Jugendmannschaft an, ein Protest gegen vermeintliche Missstände. Die Partie währte nicht einmal ein ganzes Minütchen, da traf Gala zum 1:0, die Jugendkicker von Fener verließen den Platz. Wieder ein Spielabbruch.
Das also ist die Lage in diesem so stolzen wie fanatischen Fußballland, und ganz frei machen wird sich das Nationalteam bei der EM davon kaum können. Vincenzo Montella, der italienische Coach der Türken, hat vier Galatasaray-Spieler fürs Turnier nominiert, von Fenerbahce sind ebenfalls vier Akteure dabei. Gleichstand, vielleicht war das ja eine Art diplomatische Maßnahme.
Montella jedenfalls ist erst seit vergangenem September im Amt, er übernahm von Stefan Kuntz, nun Sportvorstand beim Hamburger SV. Auch dieser Personalwechsel verlief nicht ohne Reibungen, doch Montella gilt im Team als hoch angesehen und respektiert. Die Formel, die bei diesem Turnier zu Siegen führen werde, sei „Geduld“, sagte er. Ankommen wird es, wie immer bei den Türken, ohnehin auf die Könner, die bei ausländischen Klubs spielen. Einige davon sind in Deutschland geboren, etwa Salih Özcan (Borussia Dortmund), Kenan Yildiz (Juventus Turin) und Kapitän Hakan Calhanoglu (Inter Mailand). Sie werden mit der Atmosphäre in Dortmund und Hamburg umzugehen wissen.