TSV 1860 München:Sechzig schwebt

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Seit der TSV 1860 München mit dem Absturz in die vierte Liga ins Grünwalder Stadion zurückgekehrt ist, herrscht bei den Löwen Euphorie. Ausgerechnet ein Aufstieg könnte die alten Probleme zurückbringen.

Reportage von Thomas Hummel, Giesing

Der TSV 1860 München hat in seiner Geschichte viele Rätsel aufgegeben. Bekanntlich ist er ein Sonderling unter den Klubs dieser Welt, und wer heute denkt, so was Verrücktes kann man sich gar nicht ausdenken, der wird morgen von Neuem überrascht.

Die neueste Verrücktheit geht so: Die Fußballer steigen Anfang Juni aus der zweiten Liga ab; das Relegations-Heimspiel besuchen 62 200 Menschen. Weil Hasan Ismaik, der Investor des Klubs, nach einigem Kompetenzgerangel mit der Vereinsführung am Stichtag nicht bereit ist, das Geld für die Lizenz des chronisch zahlungsunfähigen Klubs in der dritten Liga zu stellen, folgt der Absturz in die Regionalliga Bayern. Die Presse spricht vom schwarzen Freitag - Fans und Funktionäre greifen die Formulierung dankbar auf. Vierte Liga - so tief waren selbst die tragischen Sechzger noch nie gesunken. Und nun, vier Monate später? Lothar Langer, Mitarbeiter beim sozialpädagogischen Fanprojekt der Arbeiterwohlfahrt und Kenner der Szene, sagt: "Vor und nach einem Heimspiel sehe ich nur grinsende, fröhliche Menschen. Alle schweben, alle sind zufrieden." Vermutlich waren noch nie so viele Menschen rund um einen Viertligisten so glücklich. Warum?

Die Geschichte vom größten Sturzpiloten der jüngeren Fußballhistorie zum schwebenden Löwen führt in den Norden außerhalb der Stadt. Vorbei an der großen, glitzernden Arena des Lokalrivalen FC Bayern, in der der TSV 1860 in den vergangenen zwölf Jahren immer unglücklicher geworden war. Nach Garching, ins Büro von Markus Drees. Er arbeitet für die Technische Universität als Doktor der Chemie, vielleicht liegt es daran, dass ihm Kritiker geheime Kräfte zuschreiben. Seit knapp einem Jahr ist er Vorsitzender des Verwaltungsrats des Vereins, "nun behaupten Verschwörungstheoriker, ich hätte das alles eingefädelt", berichtet er. Das Zerwürfnis mit Investor Hasan Ismaik, den daraus folgenden doppelten Abstieg, den Auszug aus der Arena, den Einzug ins Grünwalder Stadion. Drees winkt ab: "Das stimmt nicht."

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Der Umzug ins Grünwalder Stadion hat die Stimmung gedreht

Keinesfalls bestreitet der 41-Jährige, dass für ihn ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung geht: die Rückkehr der ersten Mannschaft des TSV 1860 ins Stadion an der Grünwalder Straße. Drees ist auch Vorsitzender im Verein "Freunde des Sechzger Stadions", worin manche einen Interessenkonflikt mit der Funktion bei 1860 sehen. Sie fragen sich: Will hier einer aus Liebe zum Grünwalder Stadion einen möglichen Stadionneubau behindern?

Drees jedenfalls genießt den Moment. Er verschränkt seine Hände über dem Bauch und wägt seine Worte: "Wenn ich den schwarzen Freitag nicht direkt mitgemacht hätte, würde ich mich noch mehr freuen. So nehme ich das zumindest wohlwollend zur Kenntnis." Am schwarzen Freitag war der Streit zwischen den Gesellschaftern der 1860-Profiabteilung eskaliert. Ismaik hatte einen bunten Katalog mit Forderungen vorgelegt und deren Erfüllung zur Bedingung für weitere Zahlungen gemacht. Die Vereinsvertreter sprachen von Erpressung.

Als der Zwangsabstieg besiegelt war, stießen die einen vor dem Löwenstüberl am Vereinsgelände mit Sekt darauf an, die anderen schimpften auf die ihrer Ansicht nach Ewiggestrigen. Der Konflikt mit Ismaik hatte sich zuvor zugespitzt, als auf der Facebook-Seite von Drees' Stadion-Freunden das Lied "Scheiß auf den Scheich, Scheiß auf sein Geld" gepostet und lange nicht gelöscht wurde. Zu Hasan Ismaik will Drees derzeit nichts sagen, doch in gewissem Sinne dürfen er und seine Mitstreiter sich bestätigt fühlen: Der Umzug in die alte Heimstätte hat die Stimmung rund um den Klub komplett gedreht.

Dabei ist Sechzig nicht nur in ein Stadion, sondern in einen ganzen Stadtteil zurückgekehrt. Wenn der TSV 1860 der stolze Underdog Münchens ist, dann ist Giesing der stolze Underdog der Stadtviertel. Früher ein Arbeiterquartier, heute inmitten der schwerreichen Metropole "ein letztes Biotop mit Ecken und Kanten" (Drees), mit einem mehr als 100-jährigen Stadion, das selbst die größten Liebhaber hinter vorgehaltener Hand Bruchbude oder Ruine nennen. Oft ist hier von Heimat die Rede, von Identität - die Besinnung auf die eigene Welt, in der man sich auskennt und wohlfühlt.

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"Ultras" gegen Gentrifizierung

Der TSV 1860 verkörpert damit eine gesellschaftliche Strömung, die sich abwendet von der unübersichtlichen globalen Weltordnung und nach der angeblich guten, alten, ehrlichen Zeit sehnt. Demnach ist der Fußball umzingelt von Kommerz und Geldgier, genauso wie Giesing sich wehrt gegen Modernisierung und damit einhergehender Vertreibung der sogenannten kleinen Leute. Als ein Bauunternehmer vor kurzem - keinen Kilometer vom Stadion entfernt - illegal ein denkmalgeschütztes Haus abreißen ließ, wurde Giesing zum Symbol für Gentrifizierung und die Geschäftemacherei von Immobilienspekulanten. Sechzig und Giesing, das hat lange nicht mehr so gut zusammengepasst.

Drees erzählt, wie ihn die jungen Leute von der "aktiven Fanszene" Anfang Juli gebeten haben, eine Stadtteilführung zu veranstalten. Von der Auenstraße unten an der Isar, wo bald die kleine Boxhalle des Klubs abgerissen werden soll, bis hinauf zum Stadion. "Die waren sehr andächtig dabei. Es war ihnen ganz wichtig, viel übers Viertel zu erfahren", sagt er. Welchen Schluss sie daraus gezogen haben, war zuletzt dem Fan-Magazin Da Brunnenmiller abzulesen: Auf sieben Seiten ging es darin um das Thema Mieten, Renovieren, Häuserabriss, um Initiativen gegen Gentrifizierung und Aufwertung.

Wer so ein Thema für sich entdeckt, dem ist es offenbar egal, dass nun Gäste zum Punktspiel anreisen, die aus einem Dorf namens Pipinsried kommen. Ganz hinten im Landkreis Dachau liegt der Ort, er zählt 550 Einwohner. In den Stunden vor der Partie stehen Hunderte Fans vor den Kneipen in der Tegernseer Landstraße beim Stadion. Vor dem Trepperlwirt oder der Bar mit dem urigen Namen "Schau ma moi" in einem ehemaligen Trambahnhäuserl. Sie sind klein und eng, Anwohner treffen hier meist Nachbarn. "Boazn" nennt das der Münchner, eine aussterbende Spezies im Nachtleben der Stadt. Vorne am Wienerwald steht wie immer der größte Pulk, es gibt Schnitzelsemmeln und helles Bier. "Diese Urbanität und Vielfalt rund ums Stadion ist was ganz Besonderes", sagt Langer.

Unterdessen rangieren 30 Fanbusse auf der Candidstraße, die den Giesinger Berg hinunterführt. 12 500 Karten sind verkauft, mehr Zuschauer dürfen nicht mehr rein. Früher war im Stadion Platz für mehr als doppelt so viele. Das Spiel endet 3:0, der Gegner ist heillos unterlegen. Danach laufen die Spieler fast eine ganze Stadionrunde am Zaun entlang, um möglichst viele Fans persönlich abzuklatschen. 1860 führt die Tabelle nach 16 Spielen mit neun Punkten Vorsprung an und blickt der Meisterschaft entgegen.

Trotz der vielen Menschen wirkt die Gegend rund um das Stadion wie frisch geputzt. Kein Müll auf den Grünstreifen oder Gehwegen, kaum eine leere Bierflasche steht im Weg. Als eine Frau auf dem Fahrrad auf die Fans zufährt, bilden diese eine Gasse, die Dame wird freundlich durchgewunken. Die Szenerie rund um die Heimspiele ist bislang eine fast berührende Geschichte jugendlicher Selbstregulierung. Die Fans wollten die einmalige Chance, in Giesing ihren TSV 1860 zu sehen, keinesfalls vermasseln. Die Ultras "Münchner Löwen" erteilten zu Saisonbeginn schriftliche Befehle: "Wir nehmen Rücksicht auf die Anwohner, deren Lebenssituationen und Eigentum. Dies gilt es zu respektieren! Ganz konkret: Wir vermüllen unser Viertel nicht mit Flaschen, Pizzakartons oder Verpackungsmaterial von Fastfoodimbissen! Wir zerdeppern keine Glasflaschen, kleben keine Aufkleber auf Privateigentum und biesln nicht in Hauseinfahrten oder an Gartenzäune!"

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Wird das Stadion doch noch ausgebaut?

Mit gutem Benehmen und Gehorsam hoffen sie, die Stadt möge doch noch einlenken und das Stadion so ausbauen, um hier wieder Profifußball zu ermöglichen. Die Politik schließt das freilich nachdrücklich aus, die Anforderungen an Lärmschutz, an Stellflächen für TV-Sender, die fehlenden Parkplätze sowie die Gefahren des Standorts bei Spielen mit absehbarer Fan-Gewalt seien unlösbar.

Das könnte sich schon am Sonntag zeigen, wenn die Lieblingsfeinde vom FC Bayern zu Gast sind (15 Uhr). In den vergangenen Jahren waren die Derbys der zweiten Mannschaften eine bisweilen aggressive Angelegenheit. Markus Drees glaubt, die Polizei werde aus dem Viertel "einen Hochsicherheitstrakt" machen. Einen kleinen Einstand gaben Krawallbrüder vor einer Woche beim Gastspiel in Augsburg, es gab Handgreiflichkeiten, demolierte Trambahnen und einen Auftritt der Pyromanen im Stadion. Trainer Daniel Bierofka sprach von "Idioten".

Es sind Hinweise, dass die romantische Geschichte vom heimeligen Rückzug Probleme birgt. Oder schlicht die Frage: Ist diese Welt nicht ein wenig zu klein für diesen großen Klub? Der TSV 1860 erlebt seit seinem Abstieg einen Boom, Anfang Oktober zählte er fast 22 000 Mitglieder und liegt damit unter den deutschen Fußballvereinen auf Platz zwölf. Jahrelang untätige Fanklubs nahmen den Betrieb wieder auf, einige gründeten sich neu. Deshalb gibt es auch Zweifler, vor allem unter den Älteren. Unter jenen, die in den Achtzigern neun Jahre Bayernliga erlebten und wissen, dass einmal ein Heimspiel gegen Pipinsried ganz ulkig ist. Aber zweimal? Oder dreimal?

Zum Beispiel Franz Hell, einer der sogenannten Allesfahrer, seit 1970 in fast jedem Sechzig-Spiel dabei: "Die jungen Burschen haben ihre Freude, auch mir gefällt es gerade", sagt er, es sei eine tolle Sache, in einem kleinen Stadion mal wieder öfter zu gewinnen. "Aber was kommt dann? Ist die dritte Liga gesichert? Haben wir in der zweiten Liga eine Spielstätte?", fragt Hell. Für ihn steht fest, dass 1860 wieder hoch muss in den Profifußball, schon im Sommer dürfte die Mannschaft in der Relegation um den Aufstieg in die dritte Liga spielen.

Hell steht exemplarisch für jene, die Sechzigs Schrumpfung nur als Ausgangspunkt begreifen, um bald wieder nach oben zu kommen. Es gibt noch weit schärfere Kritiker am Kurs des Vereins, die nur nicht so lautstark in Erscheinung treten wie die Jubler. Und so deutet alles darauf hin, dass das Giesinger Paradies eine kurze Lebensdauer hat. Davon künden auch die Fanforen im Internet, wo sich die Lager Pro und Contra Giesing beschimpfen wie eh und je.

Die Zukunft? Ist grad nicht wichtig

Anfang März muss der Verein die Lizenz für Liga drei beantragen, es wird spannend, ob sich dann der zuletzt ruhige Hasan Ismaik als Mehrheitseigner an der ausgegliederten Profiabteilung neu einbringt. Oder ob der Verein als zweiter Anteilseigner abermals alleine für alles aufkommt. Sollte irgendwann die zweite Liga in den Blick geraten, bleiben folgende Optionen: Ausbau des Grünwalder, was selbst Stadionfreund Drees kaum glaubt. Umzug ins Olympiastadion, das aber ebenfalls weit weg ist von der Zulassung für Profifußball. Oder ein Neubau. Dafür braucht der Verein einen Standort und einen Geldgeber. Vielleicht kippt Hasan Ismaik bis dahin die 50+1-Regel im deutschen Fußball, wonach ihm praktisch der Klub gehören würde. Oder es gelingt jemandem, ihm die Anteile abzukaufen. Der noch immer interessierte Münchner Unternehmer Gerhard Mey, ein Milliardär, würde dem Verein nach einer Übernahme der Anteile ein eigenes Stadion bauen.

Angesichts so vieler Unwägbarkeiten schieben viele Fans Gedanken an die Zukunft weit weg. "Momentan wird nicht darüber geredet", berichtet Lothar Langer. Und wenn, dann kenne er nicht wenige, die am liebsten alles so belassen würden, wie es ist. Kein Aufstieg, keine Debatten. Einfach weiter vor dem Trepperlwirt ein Bier trinken und Spiele gegen Pipinsried anschauen. "Der Wunsch ist verständlich", stimmt Verwaltungsrat Drees zu. Doch bevor jemand eine Verschwörung wittert, fügt er hinzu: "Das kann nicht der Anspruch eines Funktionärs sein. Keiner arbeitet absichtlich so, dass man nicht aufsteigt."

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