TSV 1860 München:Das Kioyo-Protokoll

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"Was wir nicht in Worten denken können, können wir nicht denken": Eine Rückschau auf die elf Jahre seit dem Abstieg 2004.

Von Markus Schäflein und Philipp Schneider

Am Sonntag startet 1860 München in Heidenheim (15.30 Uhr) in seine zwölfte Zweitliga-Saison in Serie - mit wenig Euphorie und noch weniger Zugängen, dafür mit einem Übergangspräsidium, mit Investoren-Statthalter Noor Basha als Sport-Geschäftsführer, einem degradierten Sportdirektor Gerhard Poschner und Trainer Torsten Fröhling, der sagt: "Wir wollten uns schnellstmöglich gezielt verstärken. Nun ist es anders gekommen. Aber da hilft kein Jammern." Wie konnte es nur so weit kommen, seit Francis Kioyo mit seinem verschossenen Elfmeter beim 1:1 gegen Hertha am 15. Mai 2004 Sechzig in die zweite Liga beförderte?

2004/05: Der Exodus

Nach dem Bundesliga-Abstieg tritt der neue Trainer Rudi Bommer sein Amt unter der Maßgabe an, der Kader werde für den direkten Wiederaufstieg zusammengehalten. Das klappt nicht: "Ich kam hier an, und alle wollten weg." Er grast den Markt nach ablösefreien Spielern ab, zu einem Zeitpunkt, als er schon leergekauft ist. Die, die bleiben müssen, reagieren mit mäßigen Leistungen. Als Bommer im November gefeuert wird, sagt Mittelfeldspieler Roman Tyce: "Was soll ich sagen? Das ist nicht mein Problem." Assistent Reiner Maurer übernimmt. Der Präsident, Metzgermeister Karl Auer, rät: "Wenn wir die Chance haben aufzusteigen, müssen wir sie nutzen. Denn in der Arena muss der Schnitt bei 40 000 bis 50 000 Zuschauern liegen." Nach guter Rückrunde stirbt die Hoffnung am letzten Spieltag: Rang vier.

2005/06: Die Entflammung

Die erste Spielzeit in der neuen Arena beginnt begeisternd, zeitweise sind die Löwen Tabellenführer. Kein Wunder, dass sie ein tolles Fest feiern, und als das geeiste Cappuccinoparfait serviert und Limonenstrudel gereicht wird, tritt Auer nach vorne, nimmt eine Fackel und entzündet einen Schriftzug: "TSV 1860" lodert zügig in Flammen auf. Tags darauf wird Maurer entlassen, ein 0:0 zu Rückrundenbeginn gegen den Letzten LR Ahlen und Platz vier reichen, dass das Saisonziel Aufstieg als gefährdet betrachtet wird. Nachfolger wird der Österreicher Walter "Schoko" Schachner, zudem übernimmt Stefan Reuter den Posten als Manager. Im März tritt Auer aus gesundheitlichen Gründen zurück, sein Nachfolger wird Alfred Lehner. Als Geschäftsführer wird Stefan Ziffzer installiert, der die Anteile an der Arena für 11 Millionen Euro an den FC Bayern verkauft, um die Insolvenz abzuwenden. Die Mannschaft gerät unter Schachner ("wir machen immer die gleichen Fehler, dafür habe ich keine Erklärung") in Abstiegsgefahr. Rodrigo Costa wird gekündigt, weil er erklärt, nicht mehr unter Schoko spielen zu wollen. Ziffzer ermuntert die Fans: "Pfeift die Spieler mit aller Kraft aus!" Sechzig rettet sich am vorletzten Spieltag.

2006/07: Brieffreunde

Schoko Schachner darf für die kommende Saison bleiben, weil er verspricht: "Wirtschaftlich wird es eine Gratwanderung, aber ich bin kein Trainer, der einen Verein in den Ruin treibt." Zwölf Spieler gehen, zehn Nachwuchskräfte kommen. "Wir wollen nicht abstürzen, sondern vorne mitspielen. Ob's gleich geht - abwarten." Es geht nicht: Nach dem verpatzten Rückrundenstart lässt Schachner die Spieler "Briefe an den Trainer" schreiben, in denen sie sich mit sich selbst und der Mannschaft beschäftigen sollen. Es handelt sich um eine Idee des österreichischen Psychologen Walter Oberlechner, 73, der findet: "Was wir nicht in Worten denken können, können wir nicht denken." Nach einem 0:3 gegen Augsburg muss Schachner im März gehen. Unter Nachfolger Marco Kurz beendet 1860 die Saison auf Rang acht, und schon wieder wechselt der Präsident: Albrecht von Linde kommt für Lehner.

2007/08: Das Jahr des Fisches

Nach einer mal wieder schwachen Saison verhindert 1860 am vorletzten Spieltag mit einem 1:1 gegen Osnabrück den Abstieg. Geschäftsführer Ziffzer, der den Verein in finanzieller Hinsicht in ruhigeres Fahrwasser gelenkt hat, hat nachher seinen großen Auftritt - und auch seinen letzten. Er sagt in der offiziellen Pressekonferenz: "Der Fisch stinkt vom Kopf her, und bei uns ist der Kopf der Präsident." Linde spricht daraufhin im Vip-Raum, in Gegenwart von Sponsoren, die Ziffzer applaudiert haben, die fristlose Kündigung aus: "Ziffzer hat nie verstanden, wer im Verein der Koch und der Kellner ist." Bedenken, dass der Verein nun ohne Finanzchef in ein Chaos steuern könnte, zerstreut Linde: "Am Waldfriedhof liegen viele Leute in den Gräbern, die zu Lebzeiten alle gedacht haben, sie wären unersetzlich." Am 26. Mai erklärt Linde seinen Rücktritt, Nachfolger wird Rainer Beeck.

2008/09: Das Jahr der Wölfe

Nach nur acht Siegen im gesamten Kalenderjahr 2008 und einer weiteren Niederlage im ersten Spiel 2009 wird auch Geschäftsführer Reuter beurlaubt. Manfred Stoffers folgt ihm nach, Miroslav Stevic wird Sportdirektor. Ende Februar muss auch Trainer Kurz gehen. Sein Assistent Uwe Wolf übernimmt; er berichtet: "Vor Spieltagen merke ich nichts mehr von meinen Hüftschmerzen, so voll von Adrenalin bin ich da." Auf der Pressekonferenz brüllt er: "Wir gewinnen, wir gewinnen! Wir sind Sechzig, wir sind Siegertypen! Wir haben Blut geleckt, und ihr wisst ja selbst, was passiert, wenn Löwen und Wölfe Blut lecken. Wir treten im Rudel auf und wollen sie jetzt reißen. Und fressen!" Unter Wolf gewinnen die Löwen zwei Partien, von den neun folgenden aber keine mehr. Zum 33. Spieltag wird er von Ewald Lienen abgelöst. Die Mannschaft holt noch einen Punkt, was zum Klassenverbleib reicht. Nicolai Schwarzer aus Berlin ist als neuer Investor im Gespräch; nach Querelen zwischen Geschäftsführung, Aufsichtsrat und Deutscher Fußball-Liga steigt er aus.

2009/10: Das große Fressen

Stevic verkauft die Bender-Zwillinge und erhält von Borussia Dortmund im Tausch gegen Sven den Rechtsverteidiger Antonio Rukavina. Lienen verabschiedet sich nach einer ernüchternden Saison (das Ziel war natürlich Wiederaufstieg) auf Platz acht: Er will zu Olympiakos Piräus. "Ich hoffe, du wirst nicht beleidigt sein, aber du wechselt ja jetzt an die Tzatziki-Front. Wir haben dir deshalb ein Jubiläumstrikot in der Größe XL herausgesucht", sagt Geschäftsführer Stoffers zum Abschied. Stoffers verklagt die Arena GmbH des FC Bayern wegen der Zahlung von Catering-Kosten: Er beklagt, der große Lokalrivale nutze seine Monopolstellung als Vermieter rechtswidrig aus, und kündigt an, er werde künftig nur so viel Essen bezahlen, wie auch gegessen werde. Allerdings verliert er den Prozess, 542 344 Euro muss Sechzig nachzahlen, nebst Zinsen und den Prozesskosten. "Der TSV 1860 hat sich freiwillig des Olympiastadions beraubt", erklärt Richterin Elisabeth Waitzinger ihr Urteil, "er hat sich freiwillig in die Abhängigkeit begeben. Er ist sozusagen selbst schuld." Stoffers tritt zurück.

2010/11: Die große Dürre

Was keiner ahnt: Stoffers hat offenbar gar keine Rücklagen für den Prozess gebildet. Sein Nachfolger Robert Niemann verkündet zum Antritt, dass er Sechzig "in fünf Jahren plus gerne europäisch" sehe. Zum Saisonstart zählt der Kader von Sportchef Stevic mehr als 30 Profis. Niemann erklärt derweil: "Die Lage ist sehr akut, wir brauchen frisches Kapital, es geht ums Jetzt" - und erfindet das "Löwen-Flex-Paket": 499 Euro, drei Heimspiele nach Wahl, Essen und Getränke frei. Im Oktober werden dem TSV von der DFL zwei Punkte wegen falscher Angaben im Lizenzierungsverfahren abgezogen, was Lienens Nachfolger Maurer in seiner zweiten Amtszeit als Trainer erschüttert. Im November wirft Niemann nach nur 106 Tagen hin, Nachfolger wird Robert Schäfer, 34, der vom Vermarkter IMG kommt. Zwei Tage später entdeckt Vizepräsident Dieter Schneider nach ein paar Nachtschichten über den Büchern eine erstaunliche Zahl: Der Mannschaftsetat ist 3,5 Millionen Euro höher als der von 2007. Auf der Delegiertenversammlung werden die Gremienmitglieder entlastet. Präsident Beeck sagt: "Ich glaube, dass wir noch nie so produktiv und zielorientiert die Zielaufgaben gemeistert haben." Im Dezember bestellt der TSV 1860 als Einsparmaßnahme die Mietpflanzen in der Geschäftsstelle ab. Der Hauptsponsor, der polnische IT-Unternehmer Janusz Filipiak, kündigt seinen Ausstieg zum Saisonende an. Beeck tritt ab, Schneider rückt auf. Am 18. März startet er einen Hilferuf: Man benötige acht Millionen Euro. Binnen zwölf Tagen, sonst sei 1860 pleite. Am 30. März wird bekannt: Eine reicher Mann aus Abu Dhabi will groß einsteigen.

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(Foto: Stefan Matzke/sampics)

Geschäftsführer-Erinnerungen: Das Duo "Stefan & Stefan" mit Reuter (li.) und Ziffzer versuchte es betont seriös.

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(Foto: Stefan Matzke/sampics)

Manfred Stoffers (li., mit dem damaligen Sponsor Janusz Filipiak) versuchte es betont kreativ und verklagte vergeblich den FC Bayern.

2011/12: Das Jahr der Irrtümer

Am Anfang der ersten Saison mit dem Jordanier Hasan Ismaik stehen Versprechungen und Prophezeiungen. Ismaik verkündet, bald nicht mehr der einzige ausländische Investor in der Bundesliga zu sein: "Ich glaube, dass das erst der Anfang ist." Etliche Interessenten hätten sich bei ihm erkundigt, wie man das macht: sich bei einem Fußballklub einzukaufen. Ansonsten verspricht er, sich aus sportlichen Entscheidungen herauszuhalten und "so oft wie möglich bei den Heimspielen anwesend zu sein". Auch kündigt er an, sich in München ein Haus zu kaufen, "um hier eine Adresse zu haben". Seinem Investment bei Sechzig will er weitere Geschäftsbeziehungen folgen lassen. "Bald werden Sie schon davon hören, dass ich woanders in Deutschland eingestiegen bin." Für ihn sei Deutschland ein "großartiges" Land: "Die Infrastruktur, die medizinische Versorgung, die Landschaft haben mir imponiert." Mit Schneider ist er sich einig, dass Schäfer dringend ein Finanzexperte zur Seite gestellt werden muss. Schneider frohlockt: "Der Partner versucht aber nicht, irgendwelche Statthalter reinzudrücken." Sportlich fängt es gut an: Ein Jahr ohne Trainerentlassung endet auf Platz sechs.

2012/13: Der Porzellanlöwe

Im Sommer verstärkt sich 1860 mit sechs neuen Spielern, Schäfer verspricht: "So gut aufgestellt waren wir seit 2005 noch nie." Das soll wohl auch für das Löwenstüberl gelten, wo Schäfer gerne eine andere Wirtin installieren würde als Christl Estermann. "Herr Schäfer hatte mir Argumente genannt, die ich akzeptieren musste", sagt Christl unter Tränen , "auch aus finanzieller Sicht." Der Stüberlstreit geht gut aus für Estermann, als sich Schneider einschaltet. Dafür liefert der sich einen Dauerzoff mit Ismaik, der ihn einen "alten, kranken Mann" nennt, weil Schneider verhindern möchte, dass Sven-Göran Eriksson als Sportchef einsteigt. Am Ende der bitterkalten Langen Nacht von Giesing verkündet der Aufsichtsrat Otto Steiner, dass Eriksson doch verpflichtet wird. Der Schwede sagt aber ab, weil er keine Lust mehr hat. Um Ismaiks Zorn zu besänftigen (und mal wieder Darlehen zu erhalten), fliegt Steiner mit Sechzigs Aufsichtsrat, aber ohne Schneider, nach Abu Dhabi, im Gepäck ein Löwe aus Nymphenburger Porzellan als Präsent. Der hintergangene Schneider tritt ab. Hep Monatzeder soll neuer Präsident werden, wird aber von den Delegierten nicht bestätigt, weswegen er sich fortan als "Watschnbaum" bezeichnet.

2013/14: Hilfe aus der Matrix

Am Ende eines "von der Professionalität und der Intensität her beispiellosen Prüfungsprozesses" und der Erstellung einer "Matrix aus Kriterien und Eigenschaften" für jeden Kandidaten, wie Steiner verkündet, ist der selbsternannte "Oberrudelführer" Gerhard Mayrhofer gefunden, der von den Mitgliedern als Präsident bestätigt wird: Ein Unternehmensberater und Liebhaber von Orchideen, Motörhead und Wittgenstein. Er verspricht Rock'n Roll statt Löwenblues und liefert sich nachts hobbyphilosophische SMS-Diskurse mit einem AZ-Reporter. Als erster Präsident wagt er den Schulterschluss mit Ismaik, freundet sich mit dessen Cousin und Statthalter Noor Basha an und wartet fortan vergeblich auf große Investitionen Ismaiks in den Kader. Dem Rock'n Roll geschuldet ist die Entscheidung, in Karnevalist Friedhelm Funkel trotz Erfolges den vorerst letzten namhaften Trainer zu feuern.

2014/15: Spanische Experimente

Der neue Sportchef Gerhard Poschner verpflichtet Trainer Ricardo Moniz, der Platz eins als Ziel ausgibt und sich wünscht: "zwei Stürmer, einen Außenspieler, zwei Mittelfeldspieler, Innenverteidiger, Außenverteidiger". Einen Torwart wünscht sich Moniz zwar nicht, aber als erstes holt Poschner den Torwart Stefan Ortega. Insgesamt verpflichtet er zehn Neue, darunter die Spanier Ilie Sanchez, Edu Bedia und Rodri. Poschner und Moniz überwerfen sich auch über die Kaderzusammenstellung, der Saisonstart geht schief, der Trainer muss gehen, Assistent Markus von Ahlen übernimmt. Im Winter kommen drei weitere Neue. In akuter Abstiegsgefahr übernimmt der bisherige U23-Trainer Torsten Fröhling, setzt auf übrig gebliebene Spieler aus der Vorsaison und Talente. Der Klassenverbleib gelingt in letzter Sekunde in der Relegation gegen Kiel. Mayrhofer, der sich mit Ismaik über eine Entlassung Poschners und einen möglichen Anteilsverkauf überworfen hat, tritt zurück.

© SZ vom 25.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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