Süddeutsche Zeitung

TSV 1860 München:Mystisches Unentschieden

Das 0:0 gegen den SV Meppen darf für Trainer Daniel Bierofka auch als Beleg für die These herhalten, dass der Fußball-Drittligist einen weiteren Stürmer gut vertragen könnte.

Von Philipp Schneider

Gut, dass Timo Gebhart keine Augen im Hinterkopf hat. So kann er konzentriert bei seiner kritischen Analyse bleiben, als hinter seinem Rücken und jenseits der obligatorischen Werbewand, vor der die Fußballer stets Stellung beziehen bei ihren Interviews, das allseits beliebte Maskottchen Sechzgerl einen seiner in freier Wildbahn sehr, sehr selten beobachteten Stripteases vollzieht.

"Ich hab' die Szene jetzt drei-, viermal gesehen", brummt also der konzentrierte Gebhart zu den Reportern vor ihm, "ist schon hart, dass man das abpfeift." Unter der Werbewand hinter Gebhart fällt erst eine flauschige linke Tatze zu Boden, dann ein ebenso flauschige rechte Tatze. Und, siehe da: zwei menschliche, dem Anschein nach eher weibliche Waden, die sich aus Sechzgerls weichen Füßen soeben herausgeschält hatten.

"Das war ja gar nix!", knurrt Gebhart, weiterhin unbeirrt. "Das war kein Abseits und auch kein Foul. Ich hab' jetzt gehört, dass es ein Foul war, aber das ist ja lächerlich." Geräuschlos fällt hinter Gebhart der pelzige Kopf von Sechzgerl zu Boden. Und um die Ecke biegt die Statistin, die minutenlang in der Hitze unter dem Kostüm ausgeharrt hatte. Sie lächelt. Ertappt!

Man muss dazu wissen, dass der TSV 1860 München seit jeher ein großes Geheimnis macht aus der Frage, wer wohl unter der Haut seiner zwei Maskottchen steckt: Der Löwe Sechzger ist mannsgroß und hat eine dunkelbraune Mähne, Sechzgerl ist eher klein und hat eine hellbraune Mähne. Als sich die SZ vor dreieinhalb Jahren nach einem Interview mit einem der Statisten unter den Löwenkostüms erkundigte, da bekam sie einen schriftlichen Korb. Der Grund sei folgender: "Wir möchten das Maskottchen nicht entmythisieren." Aha. Aber jetzt! Nein, doch nicht.

Die Chance auf eine Entmythisierung Sechzgerls war am Samstag zwar so groß wie noch nie, aber an ein Interview mit der fliehenden Heldin unter dem Pelz war angesichts der ebenfalls mysteriösen sportlichen Lage nicht zu denken. Timo Gebhart, der bei diesem sehr merkwürdigen 0:0 gegen den SV Meppen zum ersten Mal seit seiner Rückkehr zum Münchner Drittligisten in der Startelf gestanden hatte, war ja zurecht frustriert: Zweimal hatte der Ball nach einem Freistoß im Tor des SV Meppen gelegen. Zweimal hatten die Sechzig-Fans zu feiern begonnen. Zweimal aber pfiff Schiedsrichter Benedikt Kempkes die Löwen auf den Boden der Ernüchterung zurück. In einem Fall - der Innenverteidiger Aaron Berzel hatte kurz vor dem Halbzeitpfiff nach einem Freistoß von Daniel Wein mit dem Kopf eingenickt - entschied er auf Abseits. Im zweiten, von Gebhart geschilderten Fall, ließ er den Treffer nicht zählen, weil er ein Foul von Sascha Mölders am Meppener Torwart erkannt haben wollte, bevor Gebhart am langen Pfosten den Ball mit seinem Schädel über die Linie gedrückt hatte. Zumindest diese Entscheidung war in der Tat diskussionswürdig.

Es waren zwei Szenen, die Sechzigs Trainer Daniel Bierofka nach der Partie dazu veranlassten, seine Spielanalyse mit ein wenig Sarkasmus zu würzen. Bei Berzels vermeintlichem Treffer könne man die Abseitsposition "selbst nicht in Zeitlupe erkennen. Wenn das der Linienrichter gesehen hat, dann muss ich ihm dazu gratulieren", sagte Bierofka. Durchaus zufrieden zeigte er sich angesichts der Leistung seiner Mannschaft, die vor allem in der zweiten Hälfte der ersten Halbzeit drückend überlegen gewesen war. Abgesehen von der ersten Viertelstunde, in der die Münchner nur schwer in die Partie gefunden hätten, sah Bierofka "bis zur 80. Minute ein sehr, sehr gutes Spiel". Das sehr, sehr gute Spiel endete spätestens, als der Meppener Deniz Undav frei vor Torwart Bonmann auftauchte, der glänzend reagierte. Und mit jenem Gewaltschuss von Luka Tankulic, der kurz darauf noch den Ball an die Unterkante der Latte hämmerte, der aber zum Glück der Münchner nicht hinter die Linie sprang, sondern zurück ins Feld.

Aus Sicht von Bierofka hatte die Partie mal wieder als Beweis für eine seiner Lieblingsthesen getaugt: dass nämlich ein weiterer Stürmer erworben werden sollte, bevor am 2. September die Transferperiode endet - (zuletzt hat Investor Hasan Ismaik signalisiert, er werde dem Stürmerwunsch nachkommen und den Transfer privat finanzieren). Als "nach wie vor unser großes Manko" bezeichnete der Trainer den Umstand, "dass wir zu viele Möglichkeiten brauchen, um ein Tor zu erzielen".

Die alleinige Schuld dem Schiedsrichter geben wollte keiner der Münchner - auch Bierofka und Gebhart nicht. "Wir müssen unsere Angriffe besser ausspielen, dann kommen wir zu ein, zwei Chancen mehr. Dann ist das Spiel gelaufen oder es spricht zumindest vieles für uns", sagte Gebhart, der selbstkritisch mit seinem Startelfdebüt umging, bei dem ersichtlich wurde, dass seine Mitspieler noch Zeit benötigen, um sich wieder an die Laufwege ihres alten und neuen Spielmachers zu gewöhnen. "Vielleicht brauche ich noch drei, vier Spiele", sagte Gebhart. Seine Leistung sei allerdings "schon in Ordnung" gewesen.

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Quelle:
SZ vom 19.08.2019
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