Süddeutsche Zeitung

Chronologie der 1860-Saison:Alles neu im "Schlüsseljahr"

Taxiaffäre, Whistledoktor, Import-Export von Spielern: Wer dachte, beim TSV 1860 kann es nicht schlimmer werden, der irrte. Diese Saison bietet ein Chaos-Programm, das in die dritte Liga führen kann.

Von Philipp Schneider

Die Ausgangslage (11. Juni)

Bei seiner Vorstellung wird Ricardo Moniz, gelernter Physiotherapeut und neuer Trainer des Fußball-Zweitligisten TSV 1860, gefragt, für welche Positionen er gerne noch Spieler hätte. "Zwei Stürmer, einen Außenspieler, zwei Mittelfeldspieler, einen Innenverteidiger, einen Außenverteidiger", sagt er: "Das ist schon viel. Fast die gesamte Mannschaft." Recht hat er, allerdings transferiert Sportchef Gerhard Poschner drei Spieler mehr nach München: Zehn sind es am Ende der ersten Transferperiode. Drei kommen im Winter noch dazu. Moniz will "jeden Tag trainieren, als ob er der letzte wäre". Er ahnt: "Das wird ein Schlüsseljahr. Wenn zehn Jahre nichts passiert ist, erwartet das Publikum etwas."

Die Ansage (25. Juni)

14 Tage später kennt Moniz den Kader besser, er wagt eine Prognose: "Wir werden konditionell die stärkste Mannschaft der zweiten Liga sein." Erreichen werde er diesen Zustand, indem die Spieler "jeden Tag trainieren, als ob es ihr letzter wäre". Und weil Moniz weiß, dass das Publikum etwas erwartet (zehn Jahre nichts passiert), verspricht er mal eben so: die Meisterschaft.

Bad Häring zum Ersten (15. Juli)

Moniz veranstaltet in Österreich das laut Zeugenaussagen härteste Trainingslager der Menschheitsgeschichte. Weil aber alle Profis von 1860 fleißig mitmachen, ist der holländische Übungsleiter unheimlich zufrieden. "Kompliment an alle", sagt Moniz: "So, wie ich trainiere, bleibst du fit bis 40!"

Die Taxi-Affäre (11. August)

Nach dem ersten Heimspiel gegen Leipzig (das krachend 0:3 verloren geht) wird nicht nur Torwart Gabor Kiraly suspendiert (der Mitspieler Kagelmacher an seinem Zopf zog, weil er wohl dachte, das Spiel gehe krachend verloren wegen Kagelmacher), sondern auch Kapitän Julian Weigl, Yannick Stark, Daniel Adlung sowie Vitus Eicher. Am Abend vor einem trainingsfreien Tag hatten sie gefeiert. In der Disco. Auswärts! Auf dem Heimweg landeten sie im Taxi eines Sechzig-Fans mit Hang zum Denunziantentum, der die vier verpfiff. Offenbar berichtete er, dass seine Fahrgäste über Verantwortliche des Vereins gelästert hätten. Weigl wird seines Kapitänsamtes enthoben. Poschner analysiert: "Julian hat sich von der Binde selbst befreit."

Die Erkenntnis (21. August)

Manchen Beobachtern ist inzwischen klar geworden, dass Sechzigs Kader nicht tauglich ist, um das von der Sportlichen Leitung diktierte 4-3-3 zu spielen. Trainer Moniz lässt es weiterhin überall praktizieren. Auch auswärts. Er wird gefragt, ob es nicht mutig sei, in Heidenheim so spielen zu lassen. "Ja, ist mutig", sagt Moniz. "Aber es ist unsere Philosophie, die musst du nicht ändern." Dann schiebt er die Erkenntnis nach: "Rubin Okotie ist eigentlich der Einzige, der Torgefahr hat. Der Rest ist limitiert. Wenn sich Okotie verletzt, haben wir nix!"

Die Debatte (22. September)

Alles dreht sich jetzt um die Frage: Wer verantwortet eigentlich jenes System, das bei Sechzig nicht funktioniert? Trainer Moniz oder Sportchef Poschner? Moniz würde gerne seinen Lieblingsbrasilianer Leonardo hinter zwei Stürmern positionieren, Poschner sieht ihn eher auf dem Flügel gut aufgehoben. Leonardo wird also auf dem Flügel gut aufgehoben. Ab und an muss er als Rechtsverteidiger aushelfen. Moniz äußert den Verdacht: Sollte Leonardo diese Aufgabe in Zukunft haben, "dann kann ich ihn nach zwei Monaten wegschmeißen".

Die erste Entlassung (24. September)

Nach einem 0:1 gegen Sandhausen muss in Moniz der erste Protagonist von Sechzigs Offensivprojekt gehen. "Ich kann nix sagen", sagt er, "ich bin sehr enttäuscht". Dann rollt der elfte Trainer seit dem Bundesliga-Abstieg vor zehn Jahren mit traurigem Blick einen Rollkoffer vom Gelände an der Grünwalder Straße. Etwas mehr kann dagegen Poschner sagen, der ja bleiben darf: "Man kann sich streiten, ob seine Ziele überzogen waren. Er hat sich damit natürlich selbst unter Druck gebracht."

Die gute Frage (8. Oktober)

Auf Moniz folgt dessen bisheriger Assistent Markus von Ahlen. Doch erst nach wochenlangem Zögern, weil von Ahlen sehr, sehr gerne Assistent ist (sicherer Job, ordentliches Gehalt, Sitzplatz während der Partien in der Arena). Von Ahlen tritt an, um eine Antwort zu finden auf die Frage: War der Trainer nicht gut, oder ist der Kader schlicht zu schlecht? Wenige Tage später ruft Poschner den Abstiegskampf aus.

Die Rückmeldung (18. Dezember)

Moniz' Lieblingsbrasilianer Leonardo, der unter von Ahlen weggeschmissen wurde und seinen Vertrag auflöste, meldet sich mit einer Analyse. Poschner und von Ahlen "zerstören den Verein", findet er: "Der ganze Verein wird mit ihnen untergehen." Sein Berater entschuldigt sich für die ungewöhnliche Wortmeldung.

Das Bewusstsein (8. Januar)

Beim Trainingsauftakt nach der Winterpause ruft Markus von Ahlen: "Ich habe mich unheimlich gefreut, die Jungs wieder zu sehen. Ich bin voller Tatendrang, diese Energie habe ich in mir!" Obwohl längst klar ist, dass Sechzig mindestens ein weiterer Stürmer fehlt (Okotie verletzt, Rodri und Hain in der Reha) hat Poschner zunächst kaum Energie in sich, einen zu holen: "Wir hatten ja im Sommer schon sehr viele Zugänge und mit den jungen Spielern danach noch einige mehr." Erst nach einem 2:1-Testspielsieg gegen den SV Scholz Grödig erklärt er: "Wir sind uns der angespannten Situation im Sturm bewusst".

Das Import- Exportgeschäft (Januar)

Bevor ein neuer Offensivmann verpflichtet wird, verkauft Poschner lieber noch einen weiteren: Stürmer Bobby Wood wechselt zu Erzgebirge Aue. Einem Mitkonkurrenten im Abstiegskampf. Außerdem verlassen auf Wunsch des Sportchefs Tomasov, Wojtkowiak, Hertner, Stark und Steinhöfer den Klub. Im Trainingslager in Marbella muss sich der Sportchef rechtfertigen, weswegen sich der Unterhachinger Stürmer Andreas Voglsammer trotz Interesses von 1860 lieber dem Ligakonkurrenten 1. FC Heidenheim anschloss. Und dafür, warum Sechzig nur 80 000 Euro, Heidenheim angeblich etwa 200 000 Euro für ihn bot. "Er war eine Option", sagt Poschner, "nicht mehr und nicht weniger." Wenige Tage später stellt er Anthony Annan vor, einen defensiven Mittelfeldspieler, der gewaltigen Trainingsrückstand hat und nur dreimal spielen wird. Nicht mehr und nicht weniger. Dazu kauft er Rechtsaußen Krisztian Simon, für den Sechzig plötzlich doch eine kolportierte Ablöse in Höhe von 400 000 Euro aufbringen kann.

Der Whistledoctor (13.Februar)

Mannschaftsarzt Alois Englhardt, der schon vor dem Trainingslager in Marbella seinen Rücktritt erklärte, deutet erstmals an, dass es in der Mannschaft gravierende Zerwürfnisse gibt. "Das Schlimmste, was passieren kann, ist eine kleine Lösung: dass der Trainer geht und Poschner bleibt." Auch für den Misserfolg, der den Klub auf den Abstiegs-Relegationsplatz führte, macht der Arzt den Sportchef verantwortlich: "Bisher ist unter Poschner gar nichts besser geworden, sondern alles immer nur noch schlechter. Und die Leute, die das wissen, will er loswerden."

Die kleine Lösung (17. Februar)

Sportchef Poschner entlässt Markus von Ahlen und ernennt den bisherigen U21-Trainer Torsten Fröhling zum neuen Chef. "Wir brauchen Klarheiten, Fakten, keine verschwommenen Aussagen und Rumeierei", sagt der Sportchef bei Fröhlings Vorstellung, dann eiert er aber doch lieber rum mit verschwommenen Aussagen: Warum sich der Klub zunächst ewig Zeit nahm, um einen externen Kandidaten zu suchen, den er dann aber nicht fand, erklärt Poschner nur unzureichend. Die beliebte Theorie, Investor Hasan Ismaik habe sich in letzter Sekunde geweigert, einer kostenintensiven Personalie zuzustimmen, widerlegt Poschner so leider nicht.

Der Umbau (21. Februar)

Gleich beim 2:1 gegen den FC St. Pauli, seinem ersten Spiel in Verantwortung, streicht Fröhling zwei von Poschners Königstransfers aus der Startelf: Torwart Stefan Ortega und Ilie Sanchez, den ehemaligen Kapitän von Barcelona B: "Der Trainer hält den Hintern hin, also entscheidet er auch." So gesehen ist Fröhling der erste von drei Trainern in dieser Saison, der überhaupt etwas zum Hinhalten hat.

Der Rückzug (24. Februar)

HI Squared, die Vermarktungsfirma von Investor Ismaik, zieht sich aus der Vermarktung von Ismaiks Fußball-Klubs völlig zurück. Es geht darum, fortan "die Vermarktung in professionelle Hände zu geben", sagt Noor Basha, Ismaiks Cousin, was insofern überrascht, als sie bis dahin in seinen Händen lag. Das Sportmarketing-Unternehmen Infront vermarktet stattdessen bis 2028 alle Sponsoring- und Werberechte sowie die Business Seats in der Fröttmaninger Arena. Für die 13 Jahre wird der Verein rund 60 Millionen Euro als Garantiesumme erhalten.

Die Bedrohung (6. März)

Investoren-Cousin Noor Basha verwendet auf Twitter erstmals seinen inzwischen berühmten Hashtag: "Wenn irgendjemand plant oder schon geplant hat, uns aufzuhalten, können wir ihn in einer Sekunde vernichten." Auf Nachfrage erklärte Basha, das sei "privat", er habe "einfach so einen Hashtag gemacht". Präsident Gerhard Mayrhofer, der sich zu diesem Zeitpunkt längst mit Basha, Ismaik und Poschner überworfen hat, interpretiert die Drohung dessen ungeachtet als Bashas Reaktion auf die zunächst nicht vorhandene Lust des Präsidiums, Basha zum "Sports- und Business Manager beim TSV 1860" zu ernennen. Kurz darauf erhält Basha einen Job bei Sechzig: Er ist zuständig für "Business Development und Investor Relations".

Das außergewöhnlich geheimnisvolle Geheimtraining (4. Mai)

Nach einem 0:3 gegen Union Berlin rutscht 1860 auf einen direkten Abstiegsplatz. "Ich habe immer gesagt, es geht bis zum Schluss", sagt Fröhling. "Mir wäre auch lieber, es wäre nicht so." Weil es aber wirklich so ist (und die Mannschaft endlich mal Ruhe haben soll), veranstaltet er an der Grünwalder Straße ein Training ohne Fans, hinter blau-weißem Absperrband.

Die Fehlentscheidung (17. Mai)

Schiedsrichter Jochen Drees entscheidet, warum auch immer, nach einem regelkonformen Treffer des Nürnbergers Dave Bulthuis zum 2:2 in der 87. Minute nachträglich auf Abseits. Obwohl er das Tor zunächst hatte gelten lassen und auch der Linienrichter die Fahne nicht gehoben hatte. Sechzig rettet sich durch den Sieg gegen den Club im ausverkauften WM-Stadion am vorletzten Spieltag in die Relegation gegen Holstein Kiel. Die tapferen und treuen Fans, die bei jedem Heimspiel in der Arena sind, halten während der Partie ein schönes Transparent in die Höhe, auf dem steht: "Wir begrüßen die 40 000 Katastrophentouristen".

Die Eskalation (25. Mai)

Stürmer Rodri versetzt Ersatztorwart Stefan Ortega im Training eine Ohrfeige, nachdem sie nach dem 0:2 gegen den KSC schon in der Kabine aneinandergeraten waren. Es kommt zur Rudelbildung, die missglückte Mannschaftsbildung (13 neue Spieler in nur einer Saison) lässt sich bei 1860 nicht länger verbergen. Es wird öffentlich, dass Präsident Mayrhofer schon seit Wochen keinen Kontakt mehr mit Investor Ismaik hatte und sich sehr gerne von Sportchef Poschner trennen würde. "Wir haben alle Augen im Kopf und sehen, was hier passiert", sagt einer der Profis. Ein wichtiger Vereinsmitarbeiter erklärt: "Die Mannschaft ist völlig kaputt."

Bad Häring zum Zweiten (1. Juni)

Trainer Fröhling flieht mit seiner Mannschaft ins Kurztrainingslager nach Österreich, um ungestört ohne die drei Spanier Rodri, Edu Bedia und Ilie Sanchez trainieren zu können, von denen sich die gesamte Vereinsführung einst Tiki-Taka-Fußball erhoffte. Er flieht im Glauben, dass die verbliebenen Spieler gegen Kiel eine Mannschaft formen, die nicht völlig kaputt ist.

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Quelle:
SZ vom 02.06.2015
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