Argirios Giannikis konnte nicht anders. Es war zwar zu spüren, wie sehr er sich auf die Zunge beißen musste, aber das konnte er jetzt wirklich nicht bringen: offen zu sagen, was er dachte.
Man merkte Giannikis zwar an, wie er mit sich rang, ob er nicht vielleicht doch seine Meinung vorbringen sollte, aber dann hätte er wahrscheinlich Post vom Deutschen Fußball-Bund bekommen - und Post vom Deutschen Fußball-Bund heißt selten etwas Gutes. Also nahm Giannikis ein paar Abbiegungen, als er nach den Elfmetern gefragt wurde, die in dieser Saison gegen seine Mannschaft verhängt worden sind. Dann sagte der Trainer des TSV 1860 München: „Ich pfeif’ sie nicht.“
Das war also die gute Nachricht nach Sechzigs 1:2 am Samstagnachmittag gegen Hansa Rostock: Giannikis, 44, ist kein Schiedsrichter. Er ist immer noch Fußballlehrer, und es war gut, dass er das nach dem Spiel nochmal klarstellte – es war ja schon genug durcheinandergeraten an diesem sonderbaren Nachmittag in München-Giesing.
Sechzig gegen Hansa Rostock, es war nachweislich ein Heimspiel, das da im Programmheft stand, doch Sechzig – und das war das eine, was diesen Nachmittag merkwürdig erscheinen ließ – weigerte sich, so zu spielen, wie Sechzig in dieser Saison zu Hause spielt. Oder anders ausgedrückt: Sechzig spielte gut. Am Ende aber, und das war das andere, das merkwürdig anmutete, sprangen auf der Haupttribüne einige auf und schrien ihre Freude hinaus, als es zu jenem Rostocker Handelfmeter kam, den Giannikis ausdrücklich nicht gepfiffen hatte.
Der Strafstoß war ein Ärgernis für Sechzigs Trainer, seine Mannschaft und die Löwenfans, doch die Rostocker, die sich auf der Haupttribüne unter die Münchner gemischt hatten, scheuten sich nicht, lauthals zu jubeln.
„Diese Schwankungen müssen wir in den Griff bekommen“, sagte Flügelspieler Schröter
„Es häuft sich gerade“, sagte Giannikis später zu dem Elfmeter, der das Spiel entschieden hatte – dem sechsten in dieser Saison gegen die Löwen, bei denen „einige fragwürdige dabei“ gewesen seien, auch der gegen Rostock: „Soll er sich die Hand abhacken?“, fragte Giannikis, und das konnte man von Verursacher Raphael Schifferl ja nun wirklich nicht verlangen. Dem Trainer war also nicht zu widersprechen, es war aber höchstens die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte kreiste um die zweiten 45 Minuten, den eklatanten Leistungsabfall und um die grundsätzliche Frage, die sich daraus ergab: wie es gerade eigentlich um Giannikis’ Mannschaft bestellt ist. Die Antwort: Weiß man nicht so genau. Sechzigs Saison verläuft ja in Wellen, es geht rauf und runter, runter und rauf.
„Diese Schwankungen müssen wir in den Griff bekommen“, sagte Flügelspieler Morris Schröter am Samstag, „aber das ist kein Phänomen, das nur uns betrifft.“ Das mag zwar sein, auch andere Drittligisten sind beständig unbeständig – muss es aber nicht trotzdem Sechzigs Anspruch sein, dass eine Entwicklung sichtbar wird?
Die Saison ist mittlerweile 16 Spiele alt, doch auch 16 Spiele haben nicht gereicht, um aus dieser Mannschaft schlau zu werden und zu wissen, was man eigentlich von ihr zu halten hat. Dabei, und auch das ist sonderbar, bringt sie doch alles mit, um erfolgreich zu sein. Sie hat Anführer (Verlaat und Jacobsen, die gegen Rostock allerdings verletzt bzw. gesperrt fehlten) und Freigeister (Guttau, Kozuki), Wegbereiter (Wolfram, Deniz, Schröter) und Abschlussspieler (Hobsch), Feinfüße (Guttau) und Raubeine (Schifferl). Im Grunde gibt der Kader alles her, voran geht es aber nicht so recht.
Die Fans bleiben standhaft und tragen das Auf und Ab mit einer Fassung, die fast schon rührend ist
Sechzig dümpelt vor sich hin, alles wie seit Monaten schon, auch in der Westkurve nichts Neues. Nach der Niederlage gegen Rostock applaudierten die Fans ihrer Mannschaft, um sie aufzumuntern. Einmal Löwe, immer Löwe, der Beistand ist nicht verhandelbar. Die Fans bleiben standhaft und tragen das Auf und Ab mit einer Fassung, die fast schon rührend ist – dabei hatte Sechzig zu Hause mal wieder enttäuscht.
In der ersten Hälfte schien es noch ein gelungener Nachmittag zu werden: Nach einer Ecke von Tunay Deniz drückte Marlon Frey den Ball am hinteren Pfosten über die Linie und brachte Sechzig in Führung. Es war ein vielversprechender Beginn, doch am Ende, als das Spiel gespielt war, ging es vor allem um die zweite Hälfte. Um den Einbruch, darum, wie Giannikis’ Mannschaft von ihrem Weg abgekommen war.
Sechzigs Trainer fand: „Wir hatten in der zweiten Halbzeit ähnliche Themen wie Rostock in der ersten.“ Kein Mut mehr, keine Schärfe, keine Klarheit. Und so bestätigte sich das, was die Löwen schon die ganze Saison beschäftigt: Zu Hause bekommt die Mannschaft kaum ein Bein auf den Rasen. In der Heimtabelle ist Sechzig Vorletzter, in der Auswärtstabelle Dritter. Die Diskrepanz sei „schon extrem“, gestand Schröter am Samstag – eine Erklärung hatte er aber ebenso wenig wie für die generelle Unbeständigkeit.
Sechzig gibt Rätsel auf. Zumindest das war also selbst an diesem sonderbaren Nachmittag so, wie es immer ist.