TSV 1860 in der Krise:Machtvakuum bis nach Hanoi

Der Investor schweigt, andere sind offenbar abgetaucht, der Geschäftsführer ist im Urlaub in Südostasien: Beim Fußball-Zweitligisten TSV 1860 München halten sich die Mächtigen trotz der sportlichen Talfahrt zurück. Eine Diskussion um Trainer Reiner Maurer findet dennoch statt.

Philipp Schneider

TSV 1860 München - FC St. Pauli

"Ich sehe keine falschen Aussagen von Dieter Schneider, bei Sechzig wird ohnehin immer alles ausgelegt": Trainer Reiner Maurer sieht den mangelnden Rückhalt des Klub-Präsidenten recht entspannt.

(Foto: dpa)

Es steht ja außer Frage, dass der Spätherbst wohl die wunderbarste Reisezeit ist für alle Urlaubenden in Vietnam. In der wilden Hauptstadt Hanoi senken sich dann noch immer kräftige Sonnenstrahlen auf die Haut, während die Haare bereits angenehm umweht werden von einer kühlen, leicht erfrischenden Brise; nicht zufällig besang einmal der Dichter Xuan Dieu die Schönheit der vielen Trauerweiden am Hoan Kiem See im Zentrum Hanois in seiner berühmten Strophe Endlich kommt der Herbst.

Und, klar: Irgendwann muss sich auch der Geschäftsführer eines Fußball-Zweitligisten wie dem dauerkriselnden TSV 1860 München einmal von den vielen Krisen erholen, und weil so eine Backpacking-Tour durch Vietnam schon Monate im Voraus geplant sein will, kann es durchaus geschehen, dass die Reise zeitlich mit der ausgemachtesten Krise im Verein seit Monaten zusammenfällt. Schlichtes Pech. Aber Robert Schäfer ist ja erreichbar. Er ist sogar sechs Stunden voraus.

Gleichwohl ist in diesen Tagen ein unübliches Machtvakuum zu spüren bei 1860: Vereinsinvestor Hasan Ismaik? Seit Monaten nicht in München gesichtet worden, hat womöglich andere Sorgen. Ismaiks Statthalter Hamada Iraki? Schwieg seit Wochen, ließ dann in der AZ ausrichten: "1860 hat kein Trainerproblem." Aufsichtsratschef Otto Steiner? Offenbar abgetaucht.

Als Kandidaten zur Füllung der großen Leere (die bei Sechzig immer rasch gefüllt werden muss) blieben also nur Präsident Dieter Schneider und eben Geschäftsführer Schäfer in Hanoi. Und während Schäfer in seiner Fernanalyse allein die Mannschaft als Ursache des sportlichen Niedergangs nach vier Spielen ohne Sieg ausmachte, hat Schneider unweigerlich eine Trainerdebatte angestoßen - indem er sich nicht klar auf Maurers Seite positionierte.

Ein Wechsel des Übungsleiters sei zwar "nicht geplant und derzeit kein Thema", sagte Schneider am Montag, gleichwohl achte er genau auf die Stimmung bei den Fans. Schneider hat bemerkt: "Unter ihnen ist Frust zu spüren. Auch wenn viele sagen: Taktische Fehlvorgaben des Trainers hin oder her, die Mannschaft muss schon auch Einsatzwillen zeigen."

Es ist kein Geheimnis, dass die Maurergegner unter den Fans schon lange keine isolierte, rebellische Splittergruppe mehr sind. Trainer Maurer weiß das auch. Es hat ihn bloß noch nie sonderlich gekümmert. Die seit Ewigkeiten von manchen erhobene Forderung nach einem System mit zwei Stürmern etwa prallten stets ab an seiner Allgäuer Sturheit wie geölte Squashbälle an Betonwänden.

Auch die Debatte, die Daniel Halfar ("Haben kein System") nach dem 0:2 gegen St. Pauli angestoßen hatte, irritiert ihn nun eher. Maurer sagt: "Was soll das? Wir haben gegen Pauli mit der kompletten Achse gespielt, die seit zweieinhalb Jahren da ist. Sieben Spieler von damals waren auf dem Platz. Ich kann doch jetzt nicht sagen: Das System funktioniert nicht mehr, nur weil Stefan Buck nicht mehr da ist." Ein listiges Argument.

Seit 17 Monaten kein Spiel mehr gedreht

Bei näherer Betrachtung scheint die System-Debatte ohnehin am Kern des maurerschen Dilemmas vorbeizuführen. Bis auf Moritz Stoppelkamp (und Torwart Kiraly) hat keiner der Spieler gegen St. Pauli den Willen erkennen lassen, die Partie noch zu drehen. Stoppelkamp war immerhin in der zweiten Halbzeit gesprintet, um die fälligen Eckbälle möglichst rasch auszuführen. Diese allgemeine Arbeitsverweigerung in ausgeprägtester Form ist auch Maurer nicht entgangen:

"Unser Problem ist, dass wir seit 17 Monaten kein Spiel mehr gedreht haben. Sobald wir in Rückstand geraten, entwickeln viele einzelne dann einen eigenen Plan, und die Spielidee wird über den Haufen geworfen." Dies sei ein Problem, "das wir schon länger haben, und an dem ich auch schon länger arbeite".

Wenn sich eine Mannschaft gegen den Trainer wendet, wenn sie den zum Spiel gedachten Rasen in eine Fläche der Rebellion uminterpretiert, dann ist ein Trainer nicht mehr zu halten. Felix Magath ist es beim VfL Wolfsburg zuletzt so ergangen, die entscheidende Frage muss sein: Wie viel Rückhalt genießt Maurer noch bei den Spielern?

Der Trainer hat in der Partie gegen St. Pauli in jedem Fall eine "gewisse Aggressivität unter den Spielern" diagnostiziert. Der eine Spieler "ärgert sich über den schlechten Pass des Nebenmanns und umgekehrt", solche Sachen. Auch Daniel Halfars stürmischer Tritt gegen eine wehrlose Getränkekiste nach dessen Auswechselung sei dieser gewissen Aggressivität geschuldet. Der spät eingewechselte Sechser Grigoris Makos fiel tatsächlich mehrmals durch genervtes Kopfschütteln auf, wenn immer Linksverteidiger Moritz Volz einen sicherheitsverliebten Rückpass auf Torwart Kiraly spielte, anstatt den Ball mit Verve nach vorne zu treiben.

Die im Sommer neu zusammengestellt Elf mit Spielern unterschiedlicher Sprachen und aus mannigfaltigen Kulturkreisen zeigt kaum die Symptome einer Mannschaft bestehend aus Freunden. Aber sie müssen ja eigentlich nur laufen. Wenn nicht für Reiner Maurer, dann womöglich bald für einen anderen Trainer. "Ich sehe keine falschen Aussagen von Dieter Schneider", sagt Maurer, "es ist auch egal, wie er sich jetzt äußert, bei Sechzig wird ohnehin immer alles ausgelegt".

Und weil er schon so lang für diesen zweifelsfrei wahnwitzigen Verein arbeitet, weiß Maurer auch, dass sich die Stimmung bei einem Sieg gegen den FSV Frankfurt am Sonntag wieder zu seinen Gunsten wenden könnte. Und wie sollte er denn entlassen werden? Per Fax aus Hanoi?

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