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Transfermarkt im Fußball:England gegen den Rest

Fast überall reißt die Pandemie Lücken in Klub-Etats - nur die englische Premier League ist mit ihren Fernsehmillionen in Kauflaune. Auch für die Bundesliga stellt sich die Frage: Wie reagiert man auf die finanzielle Übermacht?

Von Christof Kneer

Manchmal reichen Nachrichten aus den entlegensten Provinzen, um einen Kontinent in Unruhe zu stürzen. Nachrichten wie diese: "Norwich City rüstet für die Premier League weiter auf und verpflichtet Pierre Lees-Melou, 28, von OGC Nizza. Der französische Mittelfeldspieler erhält bei den Kanarienvögeln einen Vertrag bis 2024 und soll sechs Millionen Euro kosten."

Eine Meldung wie diese berührt in der Regel nur vier, maximal fünf Parteien: den abgebenden Verein, den aufnehmenden Verein, den Spieler, den Spieleragenten - und die Pressevertreter an den jeweiligen Standorten, die dann packende Berichte verfassen und ausgezeichnete Überschriften mit dem Wort "Kanarienvögel" herstellen können. Aber sonst, außerhalb von Norwich, Nizza und der Spielerblase?

In der Bundesliga würde es diese Meldung üblicherweise kaum auf die Schreibtische der Sportchefs schaffen, und falls doch, wäre die Reaktion vermutlich diese: Sechs Millionen plus drei Jahre Gehalt für einen 28-Jährigen, der kein einziges Länderspiel absolviert hat? Naja, die verrückten Engländer halt, mit uns hat das nicht viel zu tun.

Letzteres könnte diesmal allerdings täuschen.

Die französische Liga gilt diesmal als bevorzugtes Jagdrevier

Die Meldung aus Norwich kommt aus einer Glaskugel, mit der man in die Zukunft schauen kann, auch wenn es um einen eher kleinen Ausschnitt der Zukunft geht. Die Meldung lässt jene klubinternen Debatten erahnen, die Ende August losbrechen könnten, kurz bevor die Sommertransferperiode endet. Und sie benennt schon ziemlich präzise Täter und Opfer, auch wenn der OGC Nizza sich dank der Alimentierung durch ein prominentes Chemieunternehmen ganz gut wehren kann. Aber dass die englische Liga in diesem Transfersommer noch deutlicher der Gewinner sein wird als sonst, das prophezeien Börsenexperten und Klubmanager in seltener Eintracht. Und dass übrigens die Franzosen abzüglich ihrer wenigen großzügig gesponserten Klubs in Summe verlieren werden: Auch darüber besteht Einigkeit. Die französische Liga muss nach dem Rückzug des ursprünglichen TV-Rechteinhabers bedrohliche Einbußen hinnehmen, die zu den grundsätzlichen bedrohlichen Corona-Einbußen dazu kommen. Die französische Liga, sagen die Spielermakler, werde in diesem Sommer das bevorzugte Jagdrevier.

Soweit man informiert ist, existiert auch in Norwich eine Pandemie, aber das hat den Aufsteiger keinesfalls daran gehindert, neben den sechs Millionen für Lees Melou weitere elf Millionen für den Bremer Milot Rashica auszugeben. Außerdem: neun Millionen für einen Innenverteidiger namens Gibson, 7,5 Millionen für einen Linksverteidiger namens Giannoulis und 5,8 Millionen für einen Torwart mit dem exzellenten Namen Angus Gunn.

Es sei wegen Corona gerade kein Geld im Markt, heißt es. Kein Geld im Markt bedeutet offenbar, dass Aston Villa im Umkehrschluss aus Norwich einen Rechtsaußen namens Buendia erwirbt, für sagenhafte 38 Millionen. Man muss es wohl eher so sagen: Es ist kein Geld im Markt, außer in der englischen Premier League mit ihrem spektakulären Fernsehvertrag (knapp fünf Milliarden Pfund für den Zeitraum 2022 - 2025). Und natürlich überall dort, wo Milliardäre und Staats- oder Hedgefonds sich ihre persönliche Pandemieverdrängung leisten können. Paris Saint-Germain holte etwa allein in diesem Sommer Achraf Hakimi, Sergio Ramos, Gianluigi Donnarumma und Georginio Wijnaldum. Die drei letztgenannten Spieler kamen zwar ablösefrei, aber Gehalt und Handgeld tauchen in keiner Statistik auf.

Donyell Malen für Jadon Sancho? Die Bundesliga erlebt nur eine Andeutung von Domino

Die Engländer würden "in diesem Sommer mehr denn je ihr eigenes Spiel spielen", sagt Michael Reschke, der dieses Spiel aus allen Richtungen betrachtet. Er war Klubfunktionär in Leverkusen, München, Stuttgart und Schalke, seit Kurzem amtiert er als "Head of Europe" bei ICM Stellar, einer der größten europäischen Spieleragenturen, die das Mandat für Premier-League-Stars wie Mason Mount und Jack Grealish besitzt. Aus seiner Klubzeit kennt er die Gewohnheiten der Engländer, er weiß, dass sie auf dem Transfermarkt traditionell spät aufstehen, erst recht nach Turniersommern wie jetzt. Meistens wachen die Engländer Mitte August in ihren vergoldeten Betten auf, gähnen und strecken sich, und dann schauen sie mal, was so geht. Welchen Spielern und Vereinen sie diesmal den Kopf verdrehen können mit ihren lasterhaft hohen Gehalts- bzw. Ablöseangeboten.

Die deutschen Bundesligisten kennen diesen Schlaf-Wach-Rhythmus zwar, aber was er in Zeiten der Seuche bedeutet, weiß niemand. Es gibt keine Erfahrungswerte. Die Bundesligamanager haben sich zwar daran gewöhnt, dass sie am 26. oder 28. August von West Ham oder Newcastle United plötzlich 25 oder 35 Millionen für einen ihrer Spieler aufgedrängt bekommen, sie wissen, dass sie dann in Gedanken schon einen Nachfolger parat haben müssen, dessen Wechsel noch bis zum Transferschluss am 31. August über die Bühne gehen muss.

Das ist, was bisher geschah. Aber jetzt, mit Corona?

In jedem Sommer wird in Europa ein großes Transferdomino erwartet; fällt irgendwo ein großer Stein, reißt er viele kleinere mit. Eine Andeutung von Domino erlebt die Bundesliga gerade: Von jenen 85 Millionen, die die Dortmunder von Manchester United für den Flügelspieler Jadon Sancho kassiert haben, wollen sie ein gutes Drittel nach Eindhoven weiterreichen, um von dort den Flügelspieler Donyell Malen, 22, zu erwerben. Ob es in diesem Seuchensommer aber noch zum ganz großen Domino kommt, ist fraglich. Zwar werden auf allerhöchster Transferebene im Moment ein paar Spitzenstürmer wie Erling Haaland (zu Chelsea?), Romelu Lukaku (zu Chelsea?) und Harry Kane (zu Manchester City?) gehandelt - aber selbst wenn Lukaku oder Kane am Ende noch den Besitzer wechseln sollten, erwarten Experten eher eine kuriose neue Version dieses Dominospiels.

Vielleicht plumpsen ein, zwei riesige Klötze. Aber reißen sie überhaupt was mit?

Für alle Klubs, die keinen englischen Fernsehvertrag, keinen Milliardär und keinen Staats- oder Hedgefond anzapfen können, werden sich in diesem Sommer völlig neue Fragen stellen. Solche: Könnte man Ablösemillionen aus England überhaupt wieder investieren, oder braucht man sie, um die Löcher zuzukleistern, die die Coronaviren in den Etat gefressen haben? Sollte man so einem Transfer überhaupt zustimmen, weil man ja schlechter wird, wenn man den Besten gehen lässt und niemanden dafür holen kann? Oder lässt man den Besten gehen und vertraut den Ergänzungsspielern im Kader, mit der Option, zur Not in der Winterpause noch mal einkaufen zu gehen? Und wie löst man den Gewissenskonflikt, wenn die Engländer diesmal ganz bewusst noch später anklopfen als sonst und am 30. August einen Spieler deutlich unter Marktwert haben wollen? Kann man es sich leisten, stolz und stur zu bleiben, oder nimmt man lieber das bisschen Geld als Coronahilfe, bevor der Spieler im nächsten Jahr ablösefrei geht? Die Bundesligisten können sich schon mal auf Highspeed-Denksport gefasst machen. Sie werden Ende August vielleicht nur ein, zwei Tage Zeit haben, um in einem konkreten Fall diese Fragen zu beantworten.

Allerdings schafft es der Transfermarkt auch immer wieder, einen zu überraschen. Bis Redaktionsschluss hat Norwich City keinen weiteren Spieler verpflichtet.

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