Süddeutsche Zeitung

Trampolinspringerin Aileen Rösler:Fliegen ist harte Arbeit

Aileen Rösler verunglückte vor eineinhalb Jahren auf dem Trampolin, nun nimmt sie erstmals an der WM teil. Über eine Sportart, die in der Luft beeindruckt, sich aber im Tuch entscheidet.

Von Lynn Sigel, Stuttgart

Der Tag, an dem die Karriere von Aileen Rösler beinahe zu Ende war, liegt anderthalb Jahre zurück. Die damals 18-Jährige stieg aufs Tuch und zeigte eine Übung, die schwerer war als alles, was sie bis dahin beherrscht hatte auf dem Trampolin. Doch nach dem letzten Sprung landete sie zu nah am Rand. Sie schaffte es nicht, zum Stehen zu kommen, wurde erneut in die Höhe katapultiert. Spontan versuchte sie, mit einem Salto vom Gerät zu springen. Ein Fehler. Aileen Rösler landete Kopf voraus auf dem Boden und renkte sich einen Halswirbel aus. Noch am selben Abend wurde sie operiert.

Nun, an einem Nachmittag im November, sitzt die Trampolinturnerin Aileen Rösler, 20, auf dem Indoor-Fahrrad und strampelt. Aus den Bluetooth-Boxen dröhnt Deutsch-Rap. Rösler befindet sich in der Vorbereitung zu ihren ersten Weltmeisterschaften, die am Freitag in Tokio beginnen. Aus dem fensterlosen Kabuff, in dem sie sich aufwärmt, sieht man in die angrenzende Halle. Barren und Reckstangen stehen links, rechts sind drei Trampoline fest installiert, Matten liegen aus. Zwischen den Geräten stehen Eimer, das Dach ist undicht, es tropft. Dort, im Bundesstützpunkt in Ruit bei Stuttgart, trainieren Athleten des Nationalteams im Trampolinturnen. Auf dem mittleren Trampolin turnt ein Sportler seine Übung: dreifacher Salto, die erste Umdrehung gestreckt, doppelter Rückwärtssalto ...

Auf dem Tuch wirkt das Zehnfache des Körpergewichts

Es sieht filigran aus und fühlt sich an "wie fliegen", sagt Aileen Rösler. Aber Trampolinturnen ist harte Arbeit. Im Tuch, wie die Turner das Trampolin nennen, wirkt das Zehnfache des Körpergewichts. Nur in dieser kurzen Zeit kann der nächste Sprung gesteuert werden, denn in der Luft ist man nahezu machtlos. Zehn Sprünge umfasst eine Übung, Männer turnen bis zu neun, Frauen bis zu sechs Meter hoch. Es gilt, möglichst schwierige Salti und Schrauben zu zeigen, diese möglichst sauber auszuführen und während der Übung immer gleich hoch zu springen.

Aileen Rösler wurde 2017 in Sofia Juniorenweltmeisterin. Sie gilt neben der 26 Jahre alten Leonie Adam als größte Hoffnung für den deutschen Trampolinsport. Eigentlich, sagt Rösler, Turnerin vom MTV Stuttgart, könnte sie auch noch in der Nachwuchsklasse von 17 bis 21 starten: "Aber ich will mich schon mit den Erwachsenen messen." Dass sie mit ihnen mithalten kann, hat sie schon bewiesen. Bei zwei Weltcup-Wettbewerben in diesem Jahr sammelte sie Punkte für die Olympia-Qualifikation. Olympia ist ihr Traum, aber es wird schwer, einen der nur 16 Startplätze zu ergattern. Bei den Weltmeisterschaften ist ihr Ziel, unter die besten 24 Turnerinnen zu kommen, ins Halbfinale also, und Erfahrungen zu sammeln.

Dass sie in kürzester Zeit so stark werden kann wie nie zuvor, hat Aileen Rösler gezeigt. Nach ihrem schweren Unfall darf sie erst seit sieben Monaten wieder trainieren. Sie weiß, dass sie sehr viel Glück hatte. Angst aber, sagt sie, spüre sie nie. Nach der Operation schrieb sie ihrem Trainer aus dem Krankenhaus eine SMS mit der Nachricht, sie könne heute nicht ins Training kommen - "das war so spaßeshalber", sagt sie. Schwarzer Humor. Sie spricht offen, abgeklärt über ihren Unfall vor eineinhalb Jahren. Hemmungen vor der Rückkehr auf das Tuch hätten sie nie geplagt, auch weil sie ihren Fehler schnell erkannte.

Es werde immer dann gefährlich, wenn man "verwirrt im Kopf" sei, viel zu tun habe, etwa für die Schule, oder sich spontan für einen anderen Sprung entscheide, erläutert sie. Dann verliere man leicht die Orientierung in der Luft. Die Schule hat sie seit dem Abitur im Sommer hinter sich. Jetzt liegt der Fokus auf der WM, der Sturz ist nicht mehr präsent.

Als Kind in der dritten Klasse fand Aileen Rösler zum Trampolinturnen, zwei Jahre später auch ihr jüngerer Bruder Manuel, der heute in der Junioren-Nationalmannschaft turnt. Den Großteil ihrer Jugend verbrachte Rösler in der Halle, seit sie elf Jahre alt ist, trainiert sie acht Mal pro Woche, zunächst in München sehr erfolgreich bei den Munich Airriders. 2016 zogen die Röslers nach Esslingen und damit näher an den Bundesstützpunkt. Dort konnten die Geschwister die gymnasiale Oberstufe auf drei Jahre ausdehnen und hatten Zeit, um sich auf den Sport zu konzentrieren. Im März will Aileen Rösler mit dem Studium beginnen, technische BWL. Trampolinturnen ist trotz des Spektakels eine Randsportart. Die Athleten müssen sich eine Berufskarriere aufbauen.

In Ruit trainiert Rösler gemeinsam mit Matthias Pfleiderer und Leonie Adam. Die 26-Jährige wurde 2016 in Rio Olympia-Zehnte. Obwohl Adam und Rösler Konkurrentinnen sind, ist ihr Verhältnis sehr gut. Sie haben acht Einheiten pro Woche gemeinsam, sehen sich täglich auf dem Tuch, im Kraftraum, bei Einheiten auf dem Rad. An diesem Novembernachmittag filmen sie sich gegenseitig bei den Übungen und stehen bereit, um die Sicherheitsmatte zu schieben. Gelingt eine Übung, dann applaudieren die anderen. Einmal muss Aileen Rösler eine Übung abbrechen, als sie frustriert vom Trampolin steigt, bringen ihre Kollegen sie mit Dolly Partons "Jolene" zum Lachen. Bei der WM in Tokio tritt das Trio mit den Teamkollegen Lars Fritzsche und Fabian Vogel an.

Aileen Rösler hat ihr Aufwärmprogramm beendet. Mit Magnesium reibt sie sich Handflächen und Knie ein, geht auf die Zehenspitzen, schließt die Augen. Dann steigt sie aufs Trampolin. Sprung für Sprung gewinnt sie an Höhe, die Arme sind ganz lang, der ganze Körper ist angespannt. Die Kür, zu der sie ansetzt, besteht aus zehn verschiedenen Doppelsalti, vorwärts, rückwärts, gestreckt und gehockt. Der letzte Sprung ist ein Doppelsalto mit zwei Schrauben. In Tokio wird sie eine Kür turnen, die schwerer ist als die, bei der sie verunglückte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4698374
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 27.11.2019/sonn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.