Tour der Stürze:Komparsen in Mull

Die Tour-Profis machen Wetterfrust als Ursache für die Unfallserie aus und fordern eine längere Bannmeile. Dann wäre der letzte Kilometer allein für die Sprinter reserviert.

Von Andreas Burkert

Morgens im "Village" der Tour bleibt manchmal Zeit für ein paar Sätze unter Kollegen, beim Frisör oder bei einem Espresso, doch zurzeit meiden die meisten Fahrer das mitreisende Amüsierdorf der Frankreich-Rundfahrt. Erst kurz vor dem Start stöckeln die Profis schwerfällig aus den Bussen ins Freie, und im Tageslicht erscheinen Männer, die als Komparsen in einem Monumentalwerk über die Schlacht von Waterloo mitwirken könnten.

Manche tragen mehr Mull als Trikotsynthetik am Leib, wie der Westfale Rolf Aldag oder auch Kurt-Asle Arvesen aus Norwegen. Ihr Gesichtsausdruck lässt erahnen, dass die Schmerzen keine Erfindung eines Drehbuchs sind. "Eigentlich tut mir alles weh, nach dem Ruhetag müssen wir mal weiter sehen", sagt Aldag, der auf dem fünften Abschnitt unfreiwillig einen Salto über den Lenker aufgeführt hatte.

Der CSC-Profi Arvesen wiederum war am dritten Tag gestürzt, und seitdem nimmt die Unfallserie kein Ende mehr. Am Samstag feierte die Tour ein zweifelhaftes Jubiläum, als Sven Montgomery jammernd auf dem Asphalt lag: Der Schweizer ist das hundertste Sturzopfer dieser Tour-Ausgabe, und statt einer Flasche Champagner erhielt der Schweizer einen Schulterverband - Schlüsselbeinbruch, das Aus.

"Psychisch am Ende"

Der nächste Rückschlag fürs deutsche Team Gerolsteiner, das 2003 nur zu dritt Paris erreichte und am Freitag bereits René Haselbacher verlor. Dem Österreicher war 1000 Meter vor dem Ziel von Angers der Lenker gebrochen. Drei Dutzend fielen darauf übereinander, wobei Jens Voigt laut des französischen Augenzeugen Christophe Moreau "eine 360-Grad-Drehung um sich selbst" zeigte.

Der Berliner blieb weitgehend unverletzt. Das Bulletin über den Patienten Haselbacher fiel ernüchternder aus: drei doppelte Rippenbrüche, Nasenbeinbruch, Lungen-Einblutungen, Nierenquetschung. Der Sprinter lag bis Samstagabend auf der Intensivstation.

Haselbacher, 26, war bereits im Vorjahr schwer gestürzt und musste vor den Pyrenäen aufgeben, doch fast mehr als die Rückkehr der Schmerzen macht ihm nun das Verhalten seines beteiligten Berufskollegen Robbie McEwen zu schaffen. Das berichtet jedenfalls sein Teamchef Hans-Michael Holczer, der Telefonkontakt hält.

McEwen hatte den im Dreck und Blut wimmernden Haselbacher noch "fertig gemacht, mit der Faust bedroht und aufs Übelste beschimpft - dabei war René nicht mal in der Lage zu sprechen!" Haselbacher sei "jetzt vor allem psychisch total am Ende", ergänzt Holczer, der McEwens Lotto-Equipe, die Société und die Juryleitung informierte. Sonntag früh in Lamballe hat sich immerhin Lotto-Chef Hendrik Redant bei ihm entschuldigt: "Du Hans, das wusste ich nicht."

Haselbacher und McEwen waren auch 2003 aneinander geraten, als der Australier rücksichtslos seine Ellenbogen einsetzte. Der 30-jährige Sprinter aus Brisbane ist wegen seines kompromisslosen Stils im Feld so beliebt wie großflächiger Herpes, und die Verfehlung von Angers wird sein Ansehen nicht wesentlich steigern.

Während Haselbach am Samstagmittag erstmals wieder etwas essen durfte, äußerte sich der Australier abermals ungehalten und verweigerte eine Korrektur seiner Ansicht, der Kontrahent habe "um den Sturz gebettelt".

Natürlich wisse er vom Lenkerbruch, sagte McEwen vor dem Start der siebten Etappe (Sieger im Sprint einer Dreiergruppe: Filippo Pozzato, Italien) in Chateaubriant, "aber versuchen Sie mal ruhig zu bleiben, wenn du Auto fährst und bei Tempo 60 aus dem Fenster geworfen wirst". Wie McEwen sich verhalte, sagt Haselbachers Teamkollege Danilo Hondo angewidert, "das spiegelt seinen schlechten Charakter".

Die fatale Materialschwäche einer Lenkstange und McEwens erschreckende Frustbewältigung bilden den vorläufigen Höhepunkt einer Unfallserie, über deren Ursachen weitgehend Einigkeit herrscht. Das schlechte Wetter sei Schuld, sagen hier alle, "wegen des Regens und der Winde sind die Fahrer sehr nervös und müde", urteilt CSC-Sportchef Alain Gallopin. Danilo Hondo bestätigt das gerne, "vom Start weg sind alle unter Spannung, da kann nicht mal kurz miteinander quatschen", berichtet der Cottbuser, "wegen des Windes drängen alle früh nach vorne." Einerseits.

"Irgendwie verdrängen"

Andererseits sind auch dieses Jahr die Zielgeraden hoffnungslos verstopft, "da jagen Idioten los für einen hypothetischen 25. Platz", ereifert sich der Norweger Thor Hushovd über ungeübte Finisseure. Das Verkehrsaufkommen erhöhen zudem die Tour-Favoriten nebst ihrer Leibgarden, weil sie ja im Finale keine Sekunden verlieren möchten. Dem Stauopfer Lance Armstrong wäre dies in Angers fast passiert.

Nicht nur der Amerikaner fordert nun, die für die Zeitnahme relevante Marke zu versetzen. "Wenn du bis einen Kilometer vor dem Ziel dabei sein musst, ist es einfach zu gefährlich", sagt der Postal-Kapitän. Auch Hondo plädiert für eine Verlegung der Bannmeile, er fragt: "Wieso hauen sich nicht ab der Stadtgrenze nur noch die Sprinter die Köpfe ein?" Als einer der wenigen wehrt sich T-Mobile-Manager Walter Godefroot, 61, gegen eine Reform. "Dann können Ullrich und Armstrong zwar drei Kilometer vor dem Ziel quatschen und ein Bier trinken - aber stürzt dann niemand?" Der Purist aus Belgien glaubt das nicht.

Die Tour rollt morgen weiter, und "Stürze gehören dazu", das weiß auch Hans-Michael Holczer, "leider sogar gebrochene Lenker". Mit McEwen werden sie kein Wort mehr wechseln, zumindest nicht in Freundschaft, und Familienvater Hondo stürzt sich wieder ins Getümmel. Dabei ist er gleich nebenan gewesen, als sein Kumpel stürzte, "ich wusste, dass René dabei war". Hondo will das aber "irgendwie verdrängen", weshalb er sich abends auch die Wiederholung im Fernsehen ersparte, "denn so was muss ich nicht sehen".

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