Der zweite Sonntag der 111. Tour de France wird nicht als Ruhetag vermerkt werden, eher als Unruhetag, so wie sich die Konkurrenten um den Gesamtsieg beharkten, ehe sie sich nach der Zieleinfahrt ein weiteres Duell lieferten – und zwar ein verbales. „Manchmal braucht man als Radprofi eben Eier“, erklärte etwa der Belgier Remco Evenepoel, der während der spektakulären Schotteretappe bei Troyes attackiert hatte. Und er ließ noch einen Seitenhieb in Richtung seines dänischen Konkurrenten Jonas Vingegaard folgen. „Die hat Vingegaard leider nicht gehabt.“ Evenepoel meinte: Die Eier – oder wie es in Belgien und Frankreich auch heiß: Des Œufs.
Die öffentliche Kritik von Œufsvenepoel an Vingegaard ergänzte der Slowene Tadej Pogacar, der ebenfalls einen Angriff gestartet hatte – ehe ihn Vingegaard mit Unterstützung seiner Kollegen vom Team Visma-Lease a Bike wieder einholten. „Ich denke, er hat einfach Angst vor mir. Deshalb sind er und sein Team so auf mich fokussiert“, sagte Pogacar über Vingegaard. Also über jenen Mann, der die Frankreich-Rundfahrt in den vergangenen beiden Jahren gewonnen hat.
Und Evenepoel redete sich noch weiter in Rage. Er bekundete sein nachhaltiges Interesse daran, Vingegaard einen Zeitrückstand zu erteilen, was ihm auf den Schotterwegen letztlich nicht gelang – und schrieb diesen Umstands Vingegaards Einstellung zu. „Sonst hätten wir zumindest am Sonntag schon das Podium entscheiden können.“
Vingegaard ist ein zurückhaltender Mensch, kein Mann für große Sprüche
Diese Entscheidung also blieb aus, sie wird später fallen bei dieser Tour de France. Nach dem Tageserfolg des Franzosen Anthony Turgis (Team TotalEnergies) geht Pogacar im Gelben Trikot in die zehnte Etappe der Rundfahrt. Evenepoel liegt mit 33 Sekunden Rückstand auf Rang zwei, Vingegaard bleibt bei 1:15 Minuten, der slowenische Kapitän vom deutschen Team Red Bull-Bora-Hansgrohe Primoz Roglic ist mit 1:36 Minuten als Gesamtvierter noch in Reichweite. Am Dienstag wird die Tour de France mit einer 187,3 Kilometer langen Flachetappe von Orléans bis Saint-Amand-Montrond fortgesetzt. Mit einer Herausforderung: Es könnte Gegenwind geben.
Mit Gegenwind kennt Vingegaard sich aus. Und seine Leistung auf dem Sattel, das sei erwähnt, hatte mit Eierschaukeln keineswegs etwas zu tun, im Gegenteil. Der 27-Jährige hatte sich drei Monate vor Beginn der schwersten Radrundfahrt der Welt bei einem Sturz so schwer verletzt, dass man bei einem Sportler fast schon ein Karriereende befürchten musste. Nachdem er sich Anfang April bei der Baskenland-Rundfahrt eine Lungenquetschung zugezogen und mehrere Knochen gebrochen hatte, darunter das Schlüsselbein, war eigentlich gar nicht daran zu denken, dass dieser Mann überhaupt bei der Tour an den Start ging. Doch er ging. Und wie.
Vingegaard ist ein zurückhaltender Mensch, kein Mann, der für große Sprüche bekannt ist, das zeigte sich am Montag, dem ersten Pausentag der diesjährigen Tour. „Ich hielt es nicht für sinnvoll, dass ich mich an der Tempoarbeit beteiligte“, erklärte Vingegaard. „Ich wollte lieber auf meine Helfer warten.“ Sein Trainingsrückstand muss jedenfalls enorm sein. Und so dürfte seine zurückhaltende Strategie an den Hinterrädern der anderen kein Zufall sein. Eventuell erhöhen sich seine Chancen gegen Ende der Rundfahrt – wenn er dann doch mal attackiert.
Und dann wurde es noch emotional. Nach seinem Sturz in der Abfahrt im Baskenland hatte er mit dem Leben nahezu abgeschlossen. „Ich dachte, ich würde sterben. Als ich dort am Boden lag, habe ich mir gesagt: Wenn ich das überlebe, höre ich mit dem Radfahren auf.“ Doch dieser Plan wurde verworfen. „Vorher dachte ich, schwere Stürze werden mir schon nicht passieren. Bis es dann passierte“, sagte er: „Jetzt bin ich vorsichtiger. Und das kann man auch sein, wenn man um Siege fährt.“