Tour de France:Tony Martin arbeitet jetzt als Lokomotive

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"Wenn alles schiefläuft, haben wir noch Tony": Der Cottbuser Martin (Zweiter von re.) führt Team Jumbo zum Zeitfahr-Sieg.

(Foto: Uwe Kraft / imago images)

Von Johannes Aumüller, Epernay/Brüssel

Schnell stieg Tony Martin vom Rad und setzte sich an die Bande. Rechts von ihm platzierte sich sein belgischer Teamkollege Wout van Aert, links sein niederländischer Teamkollege Mike Teunissen. Sie lachten einander zu und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Von vorne rückten in einem dichten Pulk die Fotografen und Kameramänner heran, und von oben näherten sich mit ihren Smartphones die Ehrengäste der Tribune Géo Lefèvre - benannt nach einem der Erfinder der Frankreich-Schleife vor fast 120 Jahren.

Die niederländische Equipe Jumbo hat sich in den ersten Tagen dieser 106. Tour de France als eine der prägenden Mannschaften präsentiert. Zum Auftakt am Samstag fuhr Teunissen überraschend ins Gelbe Trikot, und im Teamzeitfahren am Sonntag gewann Jumbo verblüffend deutlich (plus 20 Sekunden) vor der Ineos-Mannschaft. Am Montag ging das Leader-Trikot zwar in den Besitz von Julian Alaphilippe (Quick Step) über, aber der Auftritt der Equipe war wieder ansprechend. Und der deutsche Routinier Tony Martin spielte bei diesem starken Beginn eine durchaus maßgebliche Rolle.

Es ist eine Weile her, dass sich eine internationale Schar von Fotografen und Ehrengästen so dicht um den gebürtigen Cottbuser gedrängt hat. Martin, 34, ist zwar neben dem Sprinter Andre Greipel der erfolgreichste und erfahrenste der elf deutschen Tour-Teilnehmer: Zum elften Mal startet er bei der Frankreich-Rundfahrt, fünf Etappen gewann er dabei, darüber hinaus vier WM-Titel und diverse andere Rennen. Aber in den vergangenen zwei Jahren lief es bei seinem Team Katjuscha nicht wirklich rund für ihn. Erst seit seinem Wechsel zum Team Jumbo im Winter wirkt er wieder zufriedener - bereits vor dem starken Tour-Start, aber nun erst recht.

Martin muss nun Ausreißer einfangen und die eigenen Sprinter nach vorne bringen

"Radsport macht immer mehr Spaß, wenn man gewinnt. Und so viel habe ich und haben wir in den letzten zwei Jahren nicht gewonnen", sagte er am Sonntagabend in Brüssel, ohne noch mal näher auf die verkorksten Jahre bei Katjuscha eingehen zu wollen.

Dabei tritt er bei dieser Tour durchaus in einer anderen Rolle an als bei vergangenen Auflagen. Martin war zwar nie ein Mann fürs Gesamtklassement, aber er war doch ein Fahrer, um den sich in den jeweiligen Teams viel drehte. Da trat er dann bei den Einzelzeitfahren in Erscheinung oder mit seinem Antritt auf der Kopfsteinpflaster-Etappe 2015, die ihn für einige Tage ins Gelbe Trikot brachte; oder am Mont Ventoux 2009 oder mal mit einem kühnen Ausreißversuch mit seinem damaligen Mannschaftskollegen Alaphilippe. Doch das ist diesmal anders. "In Ausreißergruppen werdet ihr mich nicht sehen", teilte Martin am Sonntag noch mit, bevor er zur Champagner-Runde mit den Teamkollegen in einem Flughafen-Hotel verschwand.

Stattdessen ist der gebürtige Cottbuser nun in zwei anderen Funktionen gefragt. Die eine ist es, seine unwahrscheinlichen Roller-Qualitäten einzusetzen, die er immer noch hat - auch wenn es im Einzelzeitfahren inzwischen ein paar Profis geben mag, an die er nicht mehr herankommt. Am Sonntag im Zeitfahren war das gut zu besichtigen, als er gemeinsam mit van Aert als Lokomotive des Jumbo-Zuges diente und die meiste Führungsarbeit verrichtete; ebenso am Montag, als Martin viele Kilometer an der Spitze des Pelotons fuhr. Auch in den nächsten Tagen dürfte Martin noch häufig damit beschäftigt sein, Ausreißer einzufangen und seinen Teamkollegen Dylan Groenewegen (am Samstag in Brüssel Sturz auf der Zielgerade) und Mike Teunissen einen Massensprint zu ermöglichen. Oder unterstützend für Steven Kruijswijk zu wirken, der sich im Gesamtklassement einiges ausrechnet.

Martin lernt nun verstärkt Niederländisch

Aber daneben hat Martin auch eine andere Rolle - einen "mentalen Part", wie er selbst sagt. Er soll die Mannschaft mit seiner Erfahrung anleiten in diesen schweren Wochen durch die Tour de France. "Tony ist jemand, der mit seiner Präsenz und Erfahrung ausstrahlt, dass er eine Mannschaft nach vorne bringt", sagt der Sportliche Leiter Grischa Niermann. Der war selbst zu jenen Zeiten in der Mannschaft aktiv, als Jumbo noch Rabobank hieß und der Griff zu verbotenen Substanzen dort weit verbreitet war. Auch Niermann selbst gestand später Epo-Doping. Jetzt ist er also im Leitungsstab der Jumbo-Equipe und sagt: "Wenn alles schiefläuft, dann haben wir immer noch Tony, das ist der Spruch im Team."

Martin scheint diese Rolle voll angenommen zu haben. Er lernt verstärkt Niederländisch, um sich noch besser einbringen zu können im Team. "Ich bin eben der Mann fürs Grobe und versuche ein bisschen, die Säule der Mannschaft zu sein", sagt er: "Das ist für mich total okay, ich kann mich hundertprozentig fürs Team aufopfern, und das macht mir auch Spaß."

Es ist dies eine Position, die manchmal unterschätzt wird im großen Radsportgewerbe. Die Klassementfahrer zählen natürlich etwas, die Sprinter, die Kletterer, und der Rest wird dann oft etwas leichtfertig als Helfer abgetan. Dabei gibt es just unter diesen Helfern immer auch ein paar Charaktere, die fürs Binnenklima einer Mannschaft ungemein wichtig sind.

Als Tony Martin am Sonntagabend seine längere Interview-Tour beendet hatte, saß noch sein Teamkollege Teunissen in dem kleinen Wagen, in dem sich der Träger des Gelben Trikots nach jeder Etappe den Fragen der Journalisten stellt. In manche breitbeinige Bemerkung streute er dann auch einen ausführlichen Dank an Tony Martin ein. "Sein Beitrag zu diesem Erfolg heute war entscheidend", sagte Teunissen. Er sei so erfahren und sei bereit, seine Erfahrungen zu teilen, um aus allen das Beste rauszuholen. Vor dem Rennen sei er merklich nervös gewesen, doch Martin habe ihm einfach nur gesagt: Genieß es. Diesen Auftrag habe er dann erfüllt.

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