Vingegaard bei der Tour:Wenn die Form des Lebens nicht reicht

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Das Trikot des besten Tour-Kletterers trägt Jonas Vingegaard nur auf Pump - geliehen von Tadej Pogacar, der zugleich Gesamtführender ist. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

Zwei Jahre lang dominierten Jonas Vingegaard und das Team Visma das Peloton fast nach Belieben. Doch bei der Tour 2024 fährt ihnen Tadej Pogacar davon – es bleibt die Hoffnung auf Hitze, Höhe und einen Einbruch.

Von Johannes Aumüller, Narbonne

Immerhin beim traditionellen Hotellotto hat das Team Visma diesmal den ersten Preis gewonnen. Obwohl die von der Tour-Organisation zugewiesenen Unterkünfte über die Jahre insgesamt besser geworden sind, mischt sich in die drei Rundfahrtwochen noch so manche fragwürdige Absteige. Am zweiten Ruhetag aber darf die niederländische Equipe um ihren Kapitän Jonas Vingegaard, 27, im „Château L’hospitalet“ ihr Quartier beziehen: ein „Wine Resort Beach & Spa“, fünf Sterne, eingebettet in die Weinberge nahe Narbonne und nicht nur wegen der ausgestellten Auswahl edler Tropfen mit allerlei Annehmlichkeiten lockend.

Nur fürs Pressegespräch mit dem aktuellen Gesamtzweiten der Rundfahrt ist das Château nicht so dolle geeignet. Hinter der großzügigen Weinausstellung ist noch Platz für ein Räumchen geblieben, in das sich die Fragesteller zwängen; die Sitze sind so angeordnet, als wäre dies der kleinste Hörsaal der Welt. Und auf dem Dozentenstuhl nimmt dann Jonas Vingegaard Platz, Tour-Sieger der beiden Vorjahre, der so gerne ein drittes Mal in Serie triumphieren möchte. Der aber nach zwei Niederlagen in den Pyrenäen und angesichts eines Rückstandes von 3:09 Minuten im Klassement erst einmal erklären muss, wie er den Kampf gegen den übermächtig erscheinenden Tadej Pogacar noch wenden will.

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„Ich gebe mich mit diesem Ergebnis nicht einfach zufrieden“, sagt Vingegaard also: „Ich kämpfe weiter, mit allem, was ich habe. Ich habe den Glauben noch nicht verloren.“

Der Umgang mit der Öffentlichkeit ist nicht die Lieblingsbeschäftigung des Dänen. Er wirkt in solchen Gesprächen oft schüchtern, vorsichtig, nicht so lässig wie Rivale Pogacar. Vingegaard fühlt sich erkennbar wohler, wenn er mit Fans in Kontakt kommt, wie am Montag im Hof des Châteaus, wo gerade die Bühne für ein Jazz-Festival aufgebaut wird. Da nimmt der Däne für ein paar Selfies und Autogramme sogar die Maske ab, die er bei Gesprächen im Start- und Zielbereich sonst immer trägt.

Diesmal kommt noch etwas dazu: Zum ersten Mal seit langer Zeit muss Vingegaard erklären, wie es ist, mit einem Rückschlag beim wichtigsten Radrennen der Welt umzugehen.

Vingegaard ist zwar nur Zweiter, fühlt sich aber in der Form seines Lebens

Wobei: Was heißt hier Rückschlag? Vingegaard befindet sich ja in einer speziellen Situation. Im Frühjahr ist er bei der Baskenland-Rundfahrt gestürzt, der Start bei der Tour de France stand lange infrage. Während der ersten beiden Wochen der Schleife präsentierte er sich dann aber erkennbar erholt. Nicht nur bei der Königsetappe am Sonntag offerierte er irre Leistungswerte; unter anderem beim Anstieg zum Plateau de Beille am Sonntag unterbot er die Spitzenwerte aus der Hochdopingzeit um Minuten (und hatte dabei nur das Pech, dass Pogacar schlicht besser war). Vingegaard fühlt sich trotz des Sturzes im Frühjahr jedenfalls in der besten Form, die er je hatte; und wenn dieser Pogacar nicht wäre, wäre Vingegaard auch jetzt wieder der überragende Mann des Pelotons, um Längen. So ist er Zweiter und sagt: „Wenn jemand besser ist, dann muss man das akzeptieren.“

Dennoch: Vingegaard und Visma verbringen diesen Tag im Château mit dem Gefühl, dass ihr Plan nicht aufgegangen ist – und das Gefühl kennen sie kaum. Seit 2021 nimmt Vingegaard an der Tour teil, schon im Debütjahr kam er auf Platz zwei, obwohl er da ursprünglich zum Lernen und als Helfer eingeplant war. 2022 fuhr er dann auf der elften Etappe ins Gelbe Trikot und gab es nicht mehr ab, ein Jahr später gelang ihm das schon auf der sechsten. Bei beiden Triumphen wirkte nicht nur seine eigene Vorstellung gegenüber der Konkurrenz so demoralisierend, sondern auch die gesamte Performance seines Teams Visma (damals noch Jumbo).

Das ganze Rennen schienen sie im Zangengriff zu haben, mit der besten Mannschaft, einer minutiösen Vorbereitung und mit taktischen Entscheidungen, denen oft niemand etwas entgegenzusetzen hatte. Richtig unheimlich wirkte diese Dominanz bisweilen, wenn etwa Vingegaard bei einem kurzen Zeitfahren selbst Pogacar um fast zwei und alle anderen Konkurrenten um mindestens drei Minuten distanzierte – oder weil Visma zu den Teams gehört, die freiherzig umstrittene Mittel wie Ketone einsetzen.

Vingegaard muss auf Kuss als letzten Tempomacher verzichten – und er hofft auf einen erneuten Einbruch von Pogacar

Auf der Königsetappe am Sonntag aber, als Visma auf dem Weg zum Plateau de Beille alles so aufgezogen hatte, um Pogacar distanzieren zu können, da missglückte ihr Plan – und fuhr im entscheidenden Moment Pogacar Vingegaard einfach weg statt andersherum. Es war ein Tag, an dem man merkte, dass Pogacar gerade stärker ist – und an dem man auch merkte, dass Visma diesmal vor allem der an Corona erkrankte Sepp Kuss fehlt, im Vorjahr Vingegaards letzter Tempomacher. „Ehrlich gesagt gab es auch in den vergangenen beiden Jahren Momente, in denen unser Plan nicht aufging“, sagt Vingegaard nun, als wäre ihm die Situation vertraut. Aber da ging es eher um Kleinigkeiten, weniger um den zentralen Plan: ins Gelbe Trikot zu schlüpfen.

Jetzt müssen bei Visma neue Ideen her. Es geht bei der Tour erst einmal flach weiter, die Zielankunft am Dienstag in Nimes ist die letzte Chance für die Sprinter. Dann kommen schon zwei anspruchsvolle, hügelige Abschnitte, danach zwei sehr schwere Passagen durch die Alpen, inklusive einer Kletterpartie auf die Cime de la Bonette auf 2802 Meter Höhe und mutmaßlich höheren Temperaturen. Beides soll Vingegaard zugutekommen. Der Däne verweist darauf, dass Pogacar in den beiden Vorjahren jeweils einen sehr schlechten Tag hatte, an dem er viel Zeit verlor.

Doch er weiß auch: „Wenn er auf diesem Level bleibt, dann wird es hart.“

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