Tadej Pogacar gönnte sich keine Ruhe. Die letzten Meter dieses fiesen Anstieges aufs Plateau de Beille können leicht dazu verleiten, sie sind, nun ja, flach, wobei flach immer noch heißt, dass es bergauf geht, aber halt lange nicht mehr so wie auf den 16 Kilometern davor. Doch Pogacar dachte gar nicht dran. Er zog durch, als ginge es um jede Sekunde, erst kurz vor dem Ziel riss er die Arme hoch – und dann durfte er oben warten, bis deutlich hinter ihm sein Rivale Jonas Vingegaard ins Ziel gerollt kam.
Zwei Etappensiege für Pogacar binnen 24 Stunden, ein Vorsprung von mehr als drei Minuten in der Gesamtwertung, das ist die Bilanz nach der zweiten Woche bei der Tour de France. Und auch wenn die Historie dieses 121 Jahre alten Rennens gelehrt hat, dass bis zum Schluss allerlei Wendungen denkbar sind, so blieb beim Sieger wie beim Besiegten das Gefühl, dass dieses Wochenende eine Art Vorentscheidung im Duell der beiden großen Favoriten gebracht hatte. Der Rest des Pelotons wirkt ohnehin schon besiegt. Der Drittplatzierte Remco Evenepoel hält den Abstand noch halbwegs in Grenzen (5:19 Minuten), der Vierte liegt schon fast elf Minuten zurück – Abstände wie in einer anderen Zeit.
Der Slowene über die Pyrenäen: „Vielleicht mag ich sie, und sie geben es mir zurück“
Zwei schwere Pyrenäen-Etappen hatten die Macher der Tour in den Parcours eingebaut, zweimal versehen mit einer Bergankunft der schwersten Kategorie. Und beide Male war das Resultat das gleiche: Oben auf dem Berg war der Slowene Pogacar, 25, weit vor Vingegaard, 27, – und vor dem Rest des Feldes sowieso. Am Samstag auf dem Weg nach Saint-Lary-Soulan distanzierte er den Dänen um 39 Sekunden, am Sonntag auf dem Weg zum Plateau de Beille sogar um mehr als eine Minute. „Das ist ein unglaublicher Tag. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass das am Ende der zweiten Woche so kommt“, sagte Pogacar am Sonntag. Und zur Frage, warum er so oft in den Pyrenäen siege, gab er eine kleine Liebeserklärung ab: „Vielleicht mag ich sie, und sie geben es mir zurück.“

Tour de France:Corona ist zurück im Sattel
Mehrere abgereiste Fahrer, ein freihändiger Umgang mit Testergebnissen, Maskenpflicht im Start- und Zielbereich: Die Tour de France ist die erste große Sportveranstaltung seit Langem, bei der Corona wieder eine zentrale Rolle spielt.
Dabei war der zweite Teil von Pogacars Doppelschlag der entscheidendere, und das nicht nur, weil er seinem Rivalen da noch mehr Zeit abnahm als im ersten. Sondern auch aufgrund der Dramaturgie des Rennens. Die Etappe am Samstag war von Beginn an klar als Pogacar-Tag deklariert gewesen. Seine UAE-Equipe organisierte das Peloton, unter anderem über den berüchtigten Tourmalet, erst Nils Politt, später Marc Soler, gegen Ende Adam Yates, der in fast jeder anderen Mannschaft des Feldes der Kapitän wäre, aber bei UAE als Pogacars Edelhelfer firmiert. Und nachdem der Boden über so viele Kilometer und Stunden bereitet worden war, da finalisierte Pogacar die Vorarbeit der Kollegen, attackierte und fuhr seinen Vorsprung heraus.
Pogacar geht an Vingegaard vorbei, als wäre der sein letzter Helfer gewesen
Der Sonntag aber, und das machte es für seinen Rivalen so bitter, der war eigentlich als Vingegaard-Tag gedacht. Diesmal war es seine Visma-Mannschaft, die von Beginn an die Kontrolle übernahm. Immer stärker verschärfte sie das Tempo, immer weiter verkleinerte sich das Feld, bis zehn Kilometer vor dem Gipfel Vingegaard sich davonmachen wollte – aber Pogacar ihm hinterherfuhr, ohne wirklich aus dem Sattel zu müssen. Ein paar Kilometer pedalierten sie als Duo weiter, und dann ging Pogacar an seinem Rivalen vorbei, als wäre der Däne nur sein letzter Helfer gewesen, der für ihn noch mal das Tempo gemacht hätte. Und als Vingegaard im Ziel ankam, da sah es fast schon so aus, als resigniere er.
„Alles ist möglich, aber da sieht es im Moment nicht danach aus“, sagte Vingegaards Sportlicher Leiter Grischa Niermann nach der Etappe zu den Chancen seines Kapitäns, in der finalen Woche und vor allem in den Alpen die Sache noch einmal zu wenden. Es ist ja durchaus bemerkenswert, wie Vingegaards Formkurve verläuft. Vor ein paar Wochen stand noch infrage, ob der Tour-Sieger der beiden Vorjahre überhaupt würde starten und durchhalten können, so sehr quälten ihn nach einem Sturz einige gebrochene Rippen und eine Lungenquetschung. Bei den ersten Prüfungen schien das aber kein Problem zu sein, im Zentralmassiv unter der Woche war er Pogacar sogar etwas voraus. Aber nun in den Pyrenäen, da zeigte sich ein gewaltiger Unterschied.
Schon zweimal hat Pogacar die Tour gewonnen, 2020 und 2021. Doch in den beiden Jahren danach musste er Vingegaard den Vortritt lassen – und in beiden Jahren lag das auch daran, dass er jeweils einen jour noir erwischte; im Vorjahr wurde ihm der Col de la Loze zum Verhängnis. Auf einen solchen Einbruch müssen Visma und Vingegaard jetzt wieder hoffen. Auch wenn gerade nichts danach aussieht.