Der Radrennfahrer Biniam Girmay hebt sich von der Konkurrenz ab, da er ein sehr besonderes Dress trägt. Das Grüne Trikot ist unter Teilnehmern der Rundfahrt Tour de France seit jeher en vogue, weil es bis heute den besten Sprinter im Feld auszeichnet. Und es ist in diesem Fall eine spezielle Erwähnung wert, weil bei der 111. Auflage der Tour erstmals ein schwarzer Afrikaner „en vert“ – in Grün – dieses Kleidungsstück ins Ziel bringen könnte, der 24-jährige Biniam „Bini“ Girmay.
Zuletzt ist es wenigen Radfahrern gelungen, aus dem Schatten der Fußball-EM in die Weltpresse zu treten. Girmay ist einer dieser wenigen, er stammt aus der eritreischen Hauptstadt Asmara und er glänzt vor allem bei Massensprints der Tour de France. Drei von bisher 15 Etappen hat Girmay auf diese Weise gewonnen – an diesem Dienstag könnte er auf dem letzten klassischen Flachabschnitt abermals triumphieren und seinen Vorsprung in der Sprintwertung ausbauen. Es würde sich aber nicht um das größte, schwerste und fieseste Radrennen der Welt handeln, lägen nicht noch Eventualitäten bereit.
Als da wären: Berge ab Etappe 17, mit Anstiegen und Abfahrten – die Sprintertypen wie Girmay eher unangenehm sind. Aber was hilft’s, er hält sich da an den Tipp seines Vaters, beim Sprinten ein besonderes Prinzip zu befolgen, wie der Mann vom belgischen Team Intermarché-Wanty nach seinem ersten Tour-Tagessieg in Turin erzählte: das Prinzip „Augen zu und durch“.
Die Siegerehrung beim Giro d’Italia vor zwei Jahren ging wortwörtlich ins Auge
Auf italienischem Terrain beherzigte der Sohn den Ratschlag vor zwei Jahren nur so halb. Beim Giro d’Italia 2022 gewann er zwar die zehnte Etappe im Sprint, dieser – sein bis dahin größter – Erfolg wurde allerdings stark beeinträchtigt. Bei der Siegerehrung sauste Girmay der Korken einer Champagnerflasche ins linke Auge, er musste danach aufgeben. Hätte er auch bei der Siegerehrung mal auf den Rat seines Vaters gehört.
Die gute Nachricht für diesen: Die neuesten Erfolge werden seinem Sohn für immer sicher sein; sein Etappensieg in Turin wird in der Tour-Historie als Premiere eines schwarzen Afrikaners vermerkt bleiben. Zudem ist er der erste Vertreter seines Kontinents, der sich das grüne Tour-Dress überstreift. Und er trägt es mit Nonchalance.
Zwischen den Zeremonien und Menschenmassen wirkt Girmay locker leicht, fast als könne er diesen wilden Ritt genießen, bei dem er netto seit mehr als 65 Stunden im Rennsattel sitzt – und die finale Woche noch vor sich hat. Er möchte durchkommen, in Grün, bei dieser 111. Tour de France. Im Klassement um Gelb liegt er ja nur auf Rang 111 – also: alle Augen auf Grün.
Er lebt bis heute in Asmara, der Hauptstadt seines Heimatlandes
Afrikaner sind im Radsport ungefähr so häufig anzutreffen wie auf der Profigolf-Tour, bei der Frankreich-Rundfahrt sind noch zwei Südafrikaner dabei – und eben Girmay, der bis heute in Asmara in Eritrea lebt. Auf den dortigen zunehmend asphaltierten Straßen bereitet er sich auf die Saison vor, ehe es nach Europa zu den Frühjahrsklassikern und Rundfahrten geht.
Inzwischen, mit längst verheiltem Auge, hat Girmay Einblicke gegeben in seinen komplizierten Weg in den europäischen Spitzensport. Wichtig sei sein Vater gewesen, mit dessen Hilfe gelangte er zu allerlei Erfolgen in Eritrea, wo Radrennen bis heute häufig auf Sand- und Schotterstrecken ausgetragen werden. Noch als Teenager nahm ihn das World Cycling Center des Internationalen Radsportverbands in Aigle, Schweiz, auf. „So konnte ich bereits als Jugendlicher die Kultur in Europa kennenlernen, dazu Englisch und die Radsportfachsprache lernen“, sagt er. Damit ist er eine Ausnahme. Denn anders als etwa in der Leichtathletik ist Radler-Scouting in Afrika bei den europäischen Profi-Équipes bis heute kaum en vogue, auch darüber spricht er. Afrikanische Talente gebe es reichlich, so Girmay. Um sie zu finden, müsse man aber danach suchen.