Bei der Tour de France ist alles wilder, größer und wuchtiger, wer zum ersten Mal mitmacht, läuft Gefahr, dass der Trubel einen erschlägt. Und so wählte der Rennradfahrer Florian Lipowitz, 24, bei seiner Premiere seine ganz eigene Strategie. Der Baden-Württemberger nahm die Stufen aus dem Mannschaftsbus mit schnellen Schritten, fast unmerklich, schaute für einige Sekunden hinein in die Menschenmenge, scheu wirkte er, wie einer, der die Umzingelung erkennt. Während sein zwölf Jahre älterer Kapitän und die Teamkollegen locker anmutende private Plaudereien vor dem Bus absolvierten, was immer sehr abgeklärt wirkt, wählte der Tour-Novize Lipowitz seine eigene Art der Souveränität: Er stieg auf sein Rennrad – und machte sich auf den Weg in Richtung Start.
Den Passagieren des Teambusses vom Raublinger Rennstall Red Bull-Bora-Hansgrohe dürfte die erste Etappe der 112. Tour de France allerdings wenig positiv in Erinnerung bleiben. Unter den verträglichen Erkenntnissen wird die einzige deutsche Equipe bei der härtesten Radrundfahrt der Welt vermerken, dass noch alle acht Pedaleure dabei sind, was bei der Tour nie selbstverständlich war und ist, speziell nicht nach diesem Samstagnachmittag im Norden Frankreichs.

Start der Tour de France:Die größte deutsche Tour-Hoffnung? Ein Ex-Biathlet
Seit dem Einstieg von Red Bull beim größten deutschen Radrennstall läuft sportlich einiges schief. Hoffnung macht Florian Lipowitz, der erstmals bei der Tour de France antritt. Aber nicht als Kapitän – oder heimlich doch?
Die erste Etappe gewann der Belgier Jasper Philipsen vom Team Alpecin-Deceuninck vor dem Sprintbesten des Vorjahrs Biniam Girmay (Intermarché-Wanty) aus Eritrea und dem Norweger Sören Waerenskjold (Uno-X Mobility). Bester Deutscher auf Rang neun: Marius Mayrhofer aus Tübingen, für ihn und seine Equipe Tudor ist es ihrerseits die erste Tour. Entschieden wurde die 185 Kilometer lange Rundschleife mit Ziel- und Startort in Lille im sogenannten Massensprint, wobei es sich de facto nicht um einen Massensprint im klassischen Sinne einer Flachetappe handelte.
Starker Wind servierte den 184 Tour-Startern einen erkennbaren Stresstest, es kam zu Stürzen und Defekten, ersten Aufgaben – und zu einer Entzweiung des Pelotons, die sich für einige hoch gehandelte Klassementfahrer wie ein erster Dämpfer anfühlen dürfte: 18 Kilometer vor dem Ziel beschleunigten die Teams der beiden Favoriten Tadej Pogacar (UAE Emirates) und Jonas Vingegaard (Visma-Lease a Bike) das Tempo bei Rückenwind auf bis zu 63 Kilometer pro Stunde und erzeugten so eine Lücke des vorderen Feldviertels zum Rest. Vingegaard, Tourzweiter 2024 und zuvor zweimaliger Gesamtsieger, gab in der entscheidenden Kurve höchstselbst den Tempomann an vorderster Front. Und so kam es, dass der Tourdritte des Vorjahrs, Remco Evenepoel (Soudal Quick-Step) aus Belgien, sowie das Red-Bull Duo Roglic und Lipowitz im hinteren Teil des Feldes den Anschluss verloren – und im Ziel 39 Sekunden auf Pogacar und Vingegaard einbüßten.
Das war, auf einer dem Anschein nach harmlos wirkenden Flachetappe, so nicht geplant. Florian Lipowitz hatte im mittleren Teil der Etappe nach einem Defekt bereits 40 Sekunden Rückstand wieder aufgeholt und musste dafür knapp 40 Kilometer alleine im Wind fahren.
Nachdem Lipowitz Tags zuvor wortlos im Teambus verschwunden war, saß er nach der zweiten Etappe am Zielort in Bologne-sur-Mer bei Ausradeln im Sattel – und wirkte deutlich zufriedener als am Vortag. Beim über 209,1 Kilometer längsten Teilstück von Lauwine-Planque bis an die Nordküste attackierte Lipowitz zwei Kilometer vor dem Ziel und setzte sich von der Spitze ab, suchte sein Glück in der Flucht – und wurde 850 Meter vor dem Zielstrich doch noch gestellt. Im Zielsprint war diesmal der Niederländer Mathieu van der Poel am schnellsten, holte sich die Etappe und das Gelbe Trikot.
Und während die Menschen entlang des Ärmelkanals den neuen Mann in Gelb hochleben ließen, erzählte Lipowitz am Sonntagabend noch auf dem Fahrrad sitzend, warum es am Vortag eventuell nicht so lief wie erhofft. Nach dem Critérium du Dauphiné, der Tour-Generalprobe, „habe ich ein bisschen Pause gebraucht“, so Lipowitz. „Das Training lief nie hundertprozentig, also habe ich die letzten drei Tage vor der Tour nochmal die Belastung rausgenommen.“ Er gehe davon aus, dass er sich schon bald formstärker fühlen werde. „Ich brauche jetzt erstmal zwei, drei Tage, um wieder reinzukommen“, sagte Lipowitz. „Bis zu den Bergen sollte es dann wieder ganz gut sein.“
Red-Bull-Sportchef Rolf Aldag hatte die Problematik dieser ersten Etappe bereits kurz vor dem Start erahnt: Die Herausforderung sehe er vor allem im Wind, hatte er am Samstagmittag gesagt. „In der ersten Tourwoche wollen wir verhindern, abgehängt zu werden und viel Zeit zu verlieren, also Primoz und Lipo.“ Immerhin Teil zwei des von Aldag skizzierten Plans ging bisher auf: „Nicht hinfallen und keinen gesundheitlichen Schaden nehmen.“