Radsport und Tour de France:"Die Tour ist wie eine Zusammenfassung des Lebens"

Tour de France - The 117.5-km Stage 14 from Tarbes to Tourmalet Bareges

"Faszinierende Duelle": Emanuel Buchmann (vorne links) auf dem Weg zum Col du Tourmalet.

(Foto: Gonzalo Fuentes/REUTERS)

Schon lange vor Armstrong wurde bei der Tour de France gedopt, fürchterliche Stürze zählen zum Bild - warum also ist die Beliebtheit der Rundfahrt ungebrochen? Frankreichs TV-Journalist Jean-Paul Ollivier gibt Antworten.

Interview von Jean-Marie Magro

Jean-Paul Ollivier arbeitete bei 41 Austragungen der Tour de France als Journalist. Bekannt wurde er durch die Übertragungen im französischen Fernsehen, bei denen er oft die Sehenswürdigkeiten am Rande der Strecke vorstellte. Ollivier schrieb auch zahlreiche Bücher über die Tour, den Radsport und den Staatspräsidenten Charles de Gaulle. 2015 kommentierte er das letzte Mal bei der Rundfahrt, heute arbeitet der 75-Jährige an einer Enzyklopädie über die Dörfer, die die Rundfahrt beherbergen. Davon gibt es einige.

SZ: Herr Ollivier, auch wegen der Erfolge von Julian Alaphilippe und Thibaut Pinot zuletzt meldet das französische TV gerade einen Zuschauerrekord nach dem anderen. Was fasziniert Ihre Landsleute jedes Jahr aufs Neue an dem Rennen?

Jean-Paul Ollivier: Die Tour ist ein Mosaik aus tausend Steinchen. Eine Stunde vor den Fahrern fährt die Werbekarawane auf der Rennstrecke. Da läuft Musik, den Zuschauern werden Kappen und Werbegeschenke zugeworfen. Selbstverständlich sind die Duelle zwischen den Fahrern in den Bergen faszinierend. Aber die womöglich wichtigsten Argumente sind die Landschaften. Die Tour erlaubt es den Franzosen, ihr eigenes Land kennenzulernen.

Der Sport spielt also nur eine untergeordnete Rolle?

Der Sport ist wichtig, aber für die meisten französischen Zuschauer sind die Bilder ihres Landes entscheidend. 60 Prozent der Zuschauer geben an, sich deshalb die Tour im Fernsehen anzuschauen. Wissen Sie, Frankreich ist schön! Hier kann man gut essen und trinken, es ist das Land der Berge und der Ebene. Das versetzt, jedes Jahr aufs Neue, sogar die Franzosen in Staunen.

Was fasziniert Sie persönlich an der Tour?

Es steckt alles in ihrer Geschichte, Gutes wie Schlechtes. Nach den Weltkriegen fuhren Männer, die aus bescheidenen Verhältnissen kamen und auf einem Rad alles aus sich heraus holten. In ihrem Streben steckte Anmut. Ich würde sagen, die Tour ist wie eine Zusammenfassung des Lebens. Und genau das verleiht ihr ihre Größe.

Sie kommen aus der vielleicht radsportbegeistertsten Region überhaupt, der Bretagne. Gibt es einen Fahrer aus Ihrer Heimat, den Sie bewundern?

Für mich ist es Louison Bobet, einer der am schönsten anzusehenden Fahrer, den der Radsport je hervorgebracht hat. Bobet wurde dreifacher Toursieger und Weltmeister. 1956 gewann er seine dritte Tour trotz einer Darmentzündung. Danach ließ er sich operieren und entrann um Haaresbreite einer Blutvergiftung. Er war ein unvergleichlich tapferer Mann.

Fordert die Tour Menschen dazu heraus, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten?

Auf jeden Fall und das nicht nur sportlich. Denn Bobet tat alles, um dem Publikum zu gefallen. Nach seinem dritten Toursieg sagten ihm einige: 'Monsieur Bobet, Sie haben noch nicht Paris-Roubaix gewonnen!' Also sah er es als seine Pflicht an, dieses Rennen zu gewinnen - und er tat es.

Kurz nach Bobet trat ein gewisser Jacques Anquetil auf den Plan ...

Anquetil war die Eleganz selbst. Er war ein fantastischer Rouleur. Als er mit 19 Jahren seine Karriere begann, tat er mit seinem Tempo gleich dem Rest des Fahrerfelds weh (lacht). Wissen Sie, wenn jemand die Tour gewinnen möchte, muss er ein exzellenter Zeitfahrer sein, das konnte man wieder bei Romain Bardet zuletzt sehen. Anquetil wusste um seine Stärke und holte auf Bergetappen nicht alles aus sich heraus. 1964, bei seinem letzten Toursieg, schwächelte er hinauf zum Puy-de-Dôme und verlor Zeit auf Raymond Poulidor. Als er im Ziel ankam, hatte Anquetil nur noch 14 Sekunden Vorsprung in der Gesamtwertung. Sein einziger Kommentar: "14 Sekunden? Gut, dann hab ich gewonnen."

War das Arroganz?

Nein, Anquetil war sich seiner Stärke bewusst. Ihm war klar, dass nur noch ein Zeitfahren zwischen Versailles und Paris anstand und er Poulidor da schlagen würde.

Armstrong? "Glücklicherweise musste er dafür bezahlen"

Anquetil wurden damals Dopingvergehen nachgesagt. Die Entwicklung nahm ihren Höhepunkt in einer Staatsaffäre.

1966 sollte er in den Stand des Ritters der Ehrenlegion gehoben werden. Kurz vor der Veranstaltung bekam Präsident Charles de Gaulle die Liste zu sehen. Es standen Rugbyspieler, Fechter, Leichtathleten und viele andere darauf. Nur der Name von Anquetil war von der Liste gestrichen worden. Also zitierte De Gaulle seinen Sportminister herbei und stellte ihn zur Rede. Der sagte: "Mein General, es gibt da diese Dopinggerüchte." De Gaulle antwortete darauf: "Doping? Dieser Mann hat für mich die Tour und den Giro gewonnen. Setzen Sie ihn gefälligst wieder auf die Liste."

Anquetil war der erste Fahrer, der die Tour fünfmal gewann. Sein Rivale Raymond Poulidor fuhr noch nicht einmal einen Tag im Gelben Trikot. Warum liebten die Franzosen dennoch den ewigen Zweiten noch mehr?

Poulidor war, das ist nicht negativ gemeint, ein Bauer. Er wuchs in dem abgehängten Département Creuse auf, seine Eltern waren arm und er arbeitete schon in jungen Jahren auf dem Hof. Anquetil stammte aus wohlhabenderen Verhältnissen. Er war außerdem ein schüchterner Mensch, der die großen Massen scheute und sich lieber in ein stilles Eck zurückzog. Er wirkte unnahbar, für die Menschen nicht zu greifen.

War Poulidor der beliebteste Fahrer in der Geschichte der Tour?

Popularität ist schwierig zu messen. 1947 wurde die Tour das erste Mal nach dem Krieg ausgetragen. Damals wurde der Bretone Jean Robic bekannt. Ein plumper, kleiner, hässlicher Mann mit einem furchtbaren Pedaltritt. Er war einer der wenigen zu dieser Zeit, die einen Helm trugen, weil er bei Paris-Roubaix 1944 fürchterlich gestürzt war. Aber er fuhr effizient, er stürzte, stand wieder auf und gewann das Rennen. Dieser Mann gab Frankreich etwas von seiner Größe zurück.

Tour de France Historiker

Tour-Beobachter seit 41 Jahren: TV-Journalist Jean-Paul Ollivier.

(Foto: OH)

Auf der anderen Seite gab es, neben vielen anderen Betrügereien, eine Geschichte, die herausragt: Ein Texaner, der an Hodenkrebs erkrankte ...

... Armstrong ...

... er hatte eine Überlebenschance von 50 Prozent. Dann kam er zurück zur Tour und gewann sie. Hat es die Rundfahrt mit ihrer ständigen Suche nach dem Außergewöhnlichen hier nicht übertrieben?

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als er in den Radsport zurückkehrte. Er gab damals bei Paris-Nizza auf und ich dachte mir, dass sein Comeback sehr schnell vorbei sein würde. Dann kam er Schritt für Schritt zurück (wartet lange). Wissen Sie, es ist eine traurige, schmerzhafte Geschichte.

Für wen?

Für den Radsport und seine Fans. Natürlich gab es hier Betrug. Und glücklicherweise musste er dafür bezahlen.

Hat es in der Geschichte der Tour nicht schon immer Betrug gegeben?

Es war von Anfang an klar, dass die Fahrer über sich hinauswachsen wollten. Um das zu tun, haben sie natürlich Dinge geschluckt, die sie gestärkt haben. Auch hier nahm die Tour eine Entwicklung.

"Alaphilippe ist vielleicht der beste und kompletteste Radfahrer der Welt"

Inwiefern?

Die Medizin machte Fortschritte. Ärzte forschten, wie Arzneien das Leistungsvermögen steigern konnten. Und mit der Zeit schlitterte der Radsport tiefer in ein Dopingproblem. Über Jahrzehnte haben sich die aufputschenden Amphetamine im Peloton gehalten, bis 1959 geschätzt. Dann stiegen immer mehr Fahrer auf Palphium um.

Wie wirkt das?

Palphium ist eine wirkliche Droge. Es unterdrückt die Schmerzen, aber dafür macht es müde. Was machte also ein Fahrer zu dieser Zeit, wenn er Palphium nahm? Er kippte sich gleich Amphetamine hinterher, damit er nicht einschlief. All das ergab eine schreckliche Mischung. Deswegen stürzte Roger Rivière im Jahr 1960 in der Abfahrt des Col de Perjuret in eine tiefe Schlucht und wurde schwerbehindert. Doch diese Zeit und auch die darauffolgenden 30 Jahre haben nichts mit der Professionalisierung des Dopingbetriebs in den Neunzigerjahren zu tun.

Seit 2011 gewann fast immer ein Brite die Tour. Diese Nation war davor nicht durch große Rad-Erfolge aufgefallen.

Die erste britische Mannschaft nahm 1955 teil. Bei jeder Etappe stieg einer vom Rad. Am Ende waren nur noch zwei dabei: Brian Robinson, ein solider Fahrer, und Tony Hoar, der Letzter wurde. Er sagte damals: "Ich liebe die Französinnen und Beaujolais." Schauen Sie sich diesen Riesensprung an, den sie nun gemacht haben.

Aber wenn man sich mal Julian Alaphilippes Ergebnisse bei der Tour anschaut, dann stehen da ein 41. und ein 33. Platz. Wie erklärt man in einem Sport, bei dem jede Leistung skeptisch betrachtet wird, dass so einer am Tourmalet in Gelb mit den Favoriten um den Sieg fährt?

Alaphilippe ist vielleicht der beste und kompletteste Radfahrer der Welt. Er gewann große Rennen wie Mailand-Sanremo, die Strade Bianche oder den Wallonischen Pfeil, im letzten Jahr zwei Etappen bei der Tour und das Bergtrikot. In den Jahren zuvor fuhr er nie richtig ums Gesamtklassement. Und die zusätzliche Motivation, die das Gelbe Trikot gibt, darf man nie unterschätzen. Seine Entwicklung ist verblüffend, aber nicht überraschend.

Es gibt Radsportbegeisterte, die fordern, kürzere Etappen, damit die Tour menschlicher wird.

Was halten Sie davon? Das ist eine völlig bescheuerte Diskussion. So wie es gerade läuft, die meisten Etappen um die 200 Kilometer, finde ich es genau richtig. Bei der ersten Austragung im Jahr 1903 maß die längste Etappe 471 Kilometer von Nantes nach Paris. Außerdem verlaufen kürzere Etappen viel nervöser im Fahrerfeld. Das hat dann wiederum Stürze zur Folge. Ich bin kein Fan davon.

Verglichen mit den Streckenprofilen der beiden anderen dreiwöchigen Landesrundfahrten, dem Giro d'Italia und der Vuelta, wirkt die Tour am einfachsten. Verliert sie ihren Rang?

Das versuchen vor allem die Italiener immer wieder. Die stellen dann eine Streckenführung hin, die viel spektakulärer sein soll. Aber, mit Verlaub, der Giro hat nicht dieselbe Aura wie die Tour de France. Die Tour wird im Juli gefahren, die Fernsehbilder sind die schönsten im ganzen Sport und wer an Radsport denkt, der denkt in erster Linie an dieses Rennen. Es ist eben die Tour de France.

Der letzte Franzose, der die Tour gewann, war Bernard Hinault vor 34 Jahren. Glauben Sie, dass in diesem Jahr, in dem das hundertste Jubiläum des Gelben Trikots gefeiert wird, einem Ihrer Landsleute der Gesamtsieg auf den Champs-Élysées gelingt?

Ich denke, Thibaut Pinot wird auf dem Podium landen und Julian Alaphilippe Gesamtsieger werden.

Mutig.

Alaphilippe kann sich mittlerweile nur noch selbst schlagen, durch einen schwachen Tag in den Alpen zum Beispiel. Und Pinot bestätigt, dass er jedes Jahr immer besser wird. Die beiden sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern waren zwei sichere Wetten. Und seien wir mal ehrlich: 34 Jahre sind genug.

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