Tour de France:Plötzlich Jäger

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Der gelben Farbe hinterher: Die Ineos-Fahrer Wout Poels (li.) und Geraint Thomas (Großbritannien) verfolgen den Führenden Julian Alaphilippe. (Foto: Thibault Camus/AP)

Die in den vergangenen Jahren so dominante Ineos-Equipe findet sich bei der Frankreich-Rundfahrt in einer ungewohnten Rolle wieder: in der Defensive.

Von Johannes Knuth, Gap

Diese Stille. Die Tour de France ist ja meistens eine dreiwöchige Lärmerei; Helikopter knattern am Himmel, Zuschauer brüllen, manchen Profis klingeln noch spät am Abend die Ohren. Aber vor ein paar Tagen, am Ruhetag in Nîmes, da war es an einem Fleck im Tour-Tross so andächtig wie bei der Sonntagsmesse. Nur das Orgelspiel fehlte. Das britische Team Ineos hatte zur Pressekonferenz geladen, rund 70 Reporter drängten sich um einen Tisch, an dem die Radprofis Geraint Thomas, Egan Bernal und Teamchef Dave Brailsford saßen. Und je länger vor allem Brailsford sprach, ohne Mikrofon, desto stiller wurde es im Auditorium, weil Brailsford mit jedem Satz ein bisschen leiser sprach. Am Ende war es fast ein Flüstern.

Kann natürlich sein, dass das Team, das seit Jahren angeblich auf jedes Detail achtet, allein 6000 Pfund für Radketten ausgibt, die den Fahrern zehn Watt mehr an Kraft spenden sollen, schlicht überfordert damit ist, bei jeder Tour aufs Neue ein Mikrofon zu organisieren. Oder der Teamchef hat Spaß daran, den Reportern, die ihn seit Jahren teils kritisch beäugen, die Spielregeln aufzudrücken.

So war das die vergangenen Jahre ja auch stets im Peloton gewesen: Sky, wie die Mannschaft bis zum vergangenen Mai hieß, formte das Tempo, die Regeln und damit das Rennen. Sechs Mal gewannen ihre Kapitäne seit 2012 die Rundfahrt, einmal Bradley Wiggins, vier Mal Christopher Froome, im Vorjahr Geraint Thomas. Und jetzt: Lieg der Waliser Thomas im Klassement zwar gar nicht so schlecht im Rennen als Zweiter, eineinhalb Minuten hinter Julian Alaphilippe, der die Gesamtführung auch auf der 17. Etappe am Mittwoch nach Gap behielt, in den Alpen aber wohl kaum konservieren wird. Und sein Teamkollege Egan Bernal, 22, ist als Fünfter nur eine halbe Minute auf Thomas im Verzug. Aber die Helfer des britischen Teams wirken in diesem Jahr schwächer, was auch nicht dadurch besser wurde, nachdem ihr Fahrer Luke Rowe am Mittwoch mit dem Deutschen Tony Martin aneinandergeriet und beide später von der Tour disqualifiziert wurden Und Thomas machte in den Pyrenäen den wackeligsten Eindruck aller Favoriten.

Bröckelt da eine eiserne Regentschaft?

Brailsford saß in Nîmes mit verschränkten Armen am Tisch und erklärte, warum es die Rundfahrt gerade doch ganz gut mit seinem Team meine, auch wenn das Rennen eher das Gegenteil nahelegt. Er sprach - oder besser: flüsterte - von Froomes schwerem Sturz bei der Dauphiné, dem Vorbereitungsrennen Ende Juni, bei dem der 34-Jährige diverse Knochenbrüche erlitt. Das habe die Tour beeinflusst, sagte Brailsford, und das stimmte auch: Froome war offenbar in großer Form, nun rückten Thomas und Bernal an die Spitze. Bernal gewann auch prompt die Tour de Suisse, obwohl eineinhalb Monate zuvor sein Schlüsselbein gebrochen war. Aber Thomas knallte in der Schweiz früh auf die Straße und brach seine Tour-Generalprobe ab. Und zu Beginn der Tour radelte er souverän durch die erste Woche, stürzte aber noch zwei Mal - ohne schwere Schäden - und verplemperte in den Pyrenäen viel Zeit. Na und? "Er hat den letzten Anstieg am Sonntag brillant beendet", sagte Brailsford, "und Egan war lange an Thibaut Pinot dran." Nur, das war ja immer das Schicksal, das den Sky-Widersachern blühte: dass ihnen der Rest unter großen Qualen hinterherhechelte.

Wiggins und Froome bekamen sich in die Haare - Thomas und Bernal heute nicht

Na ja, meinte Brailsford, man erlebe dieses Jahr eben zwei Rennen in einem: Alaphilippes unerwartete Präsenz an der Spitze verändere die Statik, viele Teams würden dessen Equipe früh attackieren. Gleichzeitig balgten sich viele Fahrer um die Plätze im Gesamtklassement. Wenn man der Theorie folgt, stecken die Briten sogar in drei Rennen - es ist ja noch immer ungewiss, wer im Kampf um die Gesamtwertung die größere Rolle spielen soll: Thomas, Vorjahressieger und (noch) Bester im Klassement - oder der Kolumbianer Bernal, der in den Bergen zuletzt deutlich vitaler fuhr und dem die Höhe in den Alpen besser liegt? "Das wird sich vermutlich Minute für Minute entwickeln", sagte Brailsford in Nîmes, "aber die Jungs kommunizieren richtig gut miteinander". Frei übersetzt: Besser als Wiggins und Froome, die sich 2012 ob der Führungsrolle schwer in die Haare bekamen. "Wir haben ja oft gehört, dass wir das Rennen ersticken würden", fand Brailsford jedenfalls, "diesmal ist es wohl bis zum Ende spannend. Das ist doch großartig." Was der sportbegeisterte Beobachter Brailsford tatsächlich denken mag, der Teamchef Brailsford sicher nicht.

"Es ist schon ein Auf und Ab im Vergleich zum letzten Jahr", sagte Thomas zuletzt so stoisch, wie er im Vorjahr seinen Erfolg moderiert hatte. Dann sagte er: "Du gewinnst eine Rundfahrt mit drei konstanten Wochen, nicht wenn du zu früh in die tiefrote Zone gehst. Das hebst du dir fürs Finale auf." Ob er sich denn auf die Duelle in den Alpen freue, gegen den zuletzt so starken Pinot und vielleicht sogar Alaphilippe? "Nur her damit", sagte Thomas. Es war das einzige Mal, dass er am Ruhetag aus seiner ruhigen Tonart ausbrach.

Vielleicht mögen sie das sogar: diesmal auch ein wenig die anderen zu jagen. Das Team Sky wurde in den vergangenen Jahren in Frankreich oft ausgepfiffen oder gar mit Urin beworfen, viele Fans waren (teils unanständig) frustriert ob der vielen Affären rund um die Equipe. In diesem Jahr vernahm Thomas ein paar Buhrufe, mehr nicht. Oder ist das nur die Ruhe, vor dem Sturm im Gebirge?

© SZ vom 25.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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