Tour de France:Marco Pantanis wahrer Erbe?

Christopher Froome 2018 bei der Tour de France

Christopher Froome schickt sich an, nach dem Giro d'Italia auch die Tour der France zu gewinnen.

(Foto: REUTERS)
  • Heute warten die berüchtigten Kehren von Alpe d'Huez auf die Rad-Profis der Tour de France.
  • Auf dieser Etappe hatte vor 20 Jahren Marco Pantani den Grundstein für seinen Toursieg gelegt - nachdem er zuvor bereits den Giro d'Italia gewonnen hatte.
  • Dieses Kunststück hat seither niemand mehr geschafft, nun will Christopher Froome in Pantanis beschmutzte Fußstapfen treten.

Von Johannes Knuth, La Rosière

Diesmal können sie ihn allenfalls ahnen, den stillen Giganten, wenn sie sich an diesem Donnerstag durch die Alpen mühen. Der Col du Galibier wird den Radprofis diesmal nur aus dem Nachbartal zuschauen, wie ein Patron - anders als vor 20 Jahren, als er die Fahrer auf der damaligen Königsprüfung der Tour de France mit einem Hölleninferno empfing.

27. Juli 1998, es schüttete, die Straßen waren rutschig wie Seife. Den Italiener Marco Pantani - Spitzname: der Pirat, wegen des Totenkopftuchs, das er auf seinem kahlen Schädel trug - trennten vor der 15. Etappe drei Minuten von einem gewissen Jan Ullrich. Auf dem Dach des Galibier, auf 2645 Metern, hatte Pantani den Rückstand bereits getilgt, und auf der Abfahrt warf er sich wie ein Schnellboot in die Kehren, in denen sich das Wasser staute. Ullrich, im Gelben Trikot, die roten Haare struppig unter der durchgeweichten Kappe, schnaufte derweil noch immer den Galibier hoch.

Tour de France Marco Pantani attackiert

Denkwürdiger Moment: Der Italiener Marco Pantani (links) nimmt 1998 auf der Etappe nach Les deux Alpes Jan Ullrich das Gelbe Trikot ab.

(Foto: Gero Breloer/dpa)

Es kam noch schlimmer, Pantani rauschte auch den letzten Anstieg nach Les Deux Alpes hoch, als seien alle Regeln der Ermüdung für ihn außer Kraft gesetzt. Neun Minuten brummte er dem Deutschen auf, der Titelverteidiger hatte Schiffbruch erlitten und Pantani faktisch zum ersten Mal die Tour gewonnen - fünf Wochen nach seinem Triumph beim Giro d'Italia. Wie zuvor die Großmeister, Coppi, Anquetil, Merckx, Hinault, Roche, Indurain.

Bockig wie ein Ferrari - aber auch so schnell

Eine Woche später ließ sich Pantani auf dem Siegerpodium in Paris feiern, er lächelte zart, seine Gedanken irgendwo in der Ferne. Als ahne er bereits, dass es von da an nur noch bergab gehen würde.

Die Tour steckt gerade mitten in den Alpen, am Donnerstag warten die berüchtigten Kehren von Alpe d'Huez. Es ist das Habitat, in dem Pantani vor 20 Jahren den Zweiklang aus Giro und Tour schaffte, als bislang letzter Profi. In diesem Jahr steht nun der bislang größte Versuch bevor, dank Chris Froome und seinem Team Sky. Der Brite gewann Ende Mai zum ersten Mal den Giro, ein Sieg bei dieser Tour wäre sein fünfter. "Natürlich sind beide Starts riskant, aber ich würde es für den Rest meines Lebens bereuen, wenn ich es nicht mal probieren würde", hatte Froome im Frühjahr gesagt. Nur: Was ist das eigentlich für ein Erbe, das der 33-Jährige antreten würde? Und was wäre das für eine Nachfolge?

Pantani war ganz anders als Froome, unruhig, stur, "als wäre ihm als Kind etwas gestohlen worden, und niemand hätte es je geschafft, es ihm zurückzugeben", wie der italienische Journalist Giacomo Pellizzari vor Kurzem schrieb. Der Pirat wurde in Cesenatico in der Romagna groß, Adriastrände, kernige Hügel im Hinterland; er hatte schon mit 17 seinen kahlen Schädel, seine Segelohren und diese Sturheit. "Ihn zu trainieren, war ein Kreuz", hat Giuseppe Martinelli einmal gesagt, der als Sportchef in dopingumwehten Teams wie Mercatone Uno und Astana Karriere machte:

"Wie wenn man in einem Ferrari sitzt und Mühe hat, nicht von der Straße zu rutschen, weil einem der Wagen so schnell ausbricht." Aber wenn es zählte, erklomm Pantani die Berge mit der Kraft einer Nobelkarosse, Alpe d'Huez schaffte er 1997 in nie mehr erreichten 37 Minuten und 35 Sekunden - eine Zahlenkombination, die bald für die hochvergiftete Epoche des Sports stehen sollten. Ein Jahr später, im Juli 1998, stand Pantani auf dem Gipfel seines Sports.

Löst Froome den tragischen Held ab?

Das Blut, das Pantani dann am Morgen der vorletzten Giro-Etappe 1999 abgab, war dick wie Himbeergelee, Hämatokritwert: 52 Prozent. Sie warfen ihn aus dem Rennen, wie Eddy Merckx 1969 (der beteuerte, man habe ihm eine Positivprobe untergejubelt). Merckx schüttelte das ab, Pantani stürzte wie ein gefallener Erzengel. Es folgten: Prozesse, Depressionen, der Tod am 14. Februar 2002 in einem Hotel in Rimini, nach einer Überdosis Kokain. "Ich bin für nichts und wieder nichts gedemütigt worden", hatte Pantani zum Abschied auf eine Seite in seinem Reisepass geschrieben.

Seitdem verehren sie ihn in Italien wie einen Märtyrer, sein Grab in Cesenatico ist groß wie ein Mausoleum, neben dem Eingang hängt eine Plakette: "Ein großer Champion, Opfer der italienischen Justiz." So sehen das viele Italiener, die dem Staat misstrauen. Andere erkennen eher die Geschichte des Piraten, der auf der Sturzfahrt vom Gipfel jeglichen Halt verlor.

Vor fünf Jahren kam ein Ausschuss des französischen Senats zu dem Schluss, dass Pantani und Ullrich bei der schon damals dopingzerrütteten Tour 1998 mit dem Blutbeschleuniger Epo nachgeholfen hatten. Wie so gut wie alle Größen des Radsports.

Und Froome? Sein Team Sky war vor rund acht Jahren in den Radsport eingestiegen, sie versprachen, dem Sport ein sauberes Erbe zu hinterlassen. Aber diesen Anspruch haben sie längst verwirkt nach all den Zweifeln, die das Team umschwirren wie Mücken die Touristen an einem schwülen Juliabend in den Hochsavoyen: Da sind medizinische Ausnahmegenehmigungen, die missbraucht wurden, um gesunde Fahrer zu päppeln, wie der britische Sportausschuss feststellte - und was Sky bestreitet. Dazu kommen angeblich versehentlich gelieferte Testosteronpflaster, Froomes Positivtest mit dem Asthmamittel Salbutamol, gefolgt von einem hastigen Freispruch vor dieser Tour de France, der mehr Zweifel schuf als Klarheit.

Marcel Kittel muss die Tour beenden

Der Brite wirkte beim ersten Anschwitzen am Dienstag in den Alpen, das der Franzose Julian Alaphilippe als Ausreißer gewann, noch nicht so angriffslustig wie in den Vorjahren. Aber am Mittwoch zeigte Sky, dass sie auch in diesem Jahr die Rundfahrt dominieren dürften. Geraint Thomas, Froomes Edelhelfer, gewann die Bergankunft in La Rosière und übernahm das Gelbe Trikot; der als Dritter ins Ziel gekommene Froome schüttelte fast alle ernsthaften Widersacher ab - bis auf Tom Dumoulin. Ein weiteres Opfer dieser hektischen, nur 108 Kilometer langen Bergprüfung war unter anderem Sprinter Marcel Kittel (Katjuscha-Alpecin), der außerhalb des Zeitlimits eintraf und seine dürftige Tour nach der elften Etappe beenden muss.

Die stressigsten Tage stehen Froome indes noch bevor, vor allem in den dicht bevölkerten Kehren von Alpe d'Huez, wo ihn nicht alle Fans freundlich empfangen dürften. Als Thomas und er am Mittwoch im Ziel eintrafen, regnete es einige kräftige Buhrufe von den Rängen. Und wenn Froome tatsächlich das Double schafft? Dann würde der tragische Held Pantani von einem abgelöst, der immer mehr Zweifel auf sich zieht, je mehr Rundfahrten er gewinnt. So gesehen wäre der Brite ein passender Zugang in einer Ruhmeshalle, in der die Verklärung längst dem Misstrauen gewichen ist.

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