Süddeutsche Zeitung

Etappensieg bei der Tour:Lennard Kämnas Flucht nach vorne

Nach mehreren Anläufen gelingt Lennard Kämna der 90. deutsche Etappensieg bei der Tour und der erste in diesem Jahr. Seine Attacke vor dem Ziel ist ein Fall fürs Radsport-Lehrbuch.

Von Johannes Knuth

Lennard Kämna hatte sogar noch Zeit für eine kleine Choreografie. Er streckte die Arme vom Körper, reckte den verschwitzen Kopf Richtung Himmel, als wolle er alle (eher spärlich vorhandenen) Sonnenstrahlen aufsaugen, die auf das Zielgelände in Villard-de-Lans fielen. Dann holte er mit der rechten Hand aus und malte einen kleinen Aufwärtshaken in die Luft, eher er über die Ziellinie rollte. So sieht wohl ein menschgewordenes "Endlich" aus.

Was hatten Kämnas Bora-hansgrohe-Team und der 24-Jährige selbst zuletzt nicht an Aufwand betrieben, vor und während dieser Tour de France. Emanuel Buchmann war vorher bei der Dauphiné-Rundfahrt gestürzt - just an dem Tag, als Kämna seine erste Etappe bei den Profis gewann. Die Form der großen deutschen Klassementhoffnung war jedenfalls verdampft. Bei der Tour litt Buchmann zuletzt auch noch an einer Erkältung, die es ihm erschwerte, sich in Frankreich mit einem eintägigen Ausreißversuch zu rehabilitieren. Sein Teamkollege Peter Sagan rangelte derweil im Zielsprint und wurde strafversetzt; die Mannschaft kniete sich in große Schmerzen, um Sagans Widersacher am Tag darauf abzuhängen - dann wurde der Slowake im Finale von der Konkurrenz überrumpelt. Und Kämna, der wähnte sich am vergangenen Freitag insgeheim als Sieger am Puy Mary, eher er den Spurt gegen Dani Martinez ein paar Meter zu früh eröffnete. Wieder nichts.

Am Dienstagabend waren all diese schweren Gedanken schnell vergessen. Da erschuf Kämna ein kleines Radport-Meisterwerk, mit seinem Sieg auf der 16. Etappe von La-Tour-du-Pin nach Villard-de-Lans. Es war der erste Tageserfolg bei dieser Tour für sein Team, der 90. eines deutschen Fahrers beim größten Radrennen der Welt, wichtiger noch: Der Erfolg, sein erster bei einer großen Landesrundfahrt, wird umgehend an die höchste Stelle in Kämnas bisheriger Athletenvita rutschen; bei der Tour wiegt ja alles ein wenig schwerer, auch die Bedeutung der Etappensiege. "Das ist ein großartiger Tag für mich", sagte Kämna im Ziel, die hellblauen Augen weit aufgerissen, "aber auch eine große Erleichterung für die Mannschaft. Wir haben so hart gearbeitet und mussten so viele Rückschläge einstecken. Ich fühle mich so sehr vom Glück gesegnet."

Der Tag hatte bereits mit einer guten Nachricht für den ganzen Tross begonnen: Bei der zweiten Testwelle rund um den Ruhetag am Montag waren alle Corona-Tests der 785 Fahrer und Betreuer negativ ausgefallen. Bei zwei Positivfällen pro Team wäre eine Mannschaft ausgeschlossen worden. Ein Tour-Finale am Sonntag in Paris ist somit nun deutlich wahrscheinlicher geworden - auch wenn die Bilder der vielen Zuschauer in den Alpen, einer "roten Corona-Zone" der französischen Regierung, auch am Dienstag nicht gerade erbaulich wirkten. Sportlich gereichte das Profil der Etappe, der ersten von drei Alpenklettereien bis zum Donnerstag, Kämna nicht gerade zum Nachteil: Sie war nicht zu leicht, aber auch nicht knüppelhart, mit einem Anstieg der ersten Kategorie als größter Herausforderung, rund 30 Kilometer vor dem Ziel.

Kurz vor diesem Gipfel - mit dem schönen Namen Montée de Saint-Nizier-du-Moucherotte - waren aus einem zunächst großen Ausreißerfeld nur noch Richard Carapaz aus Ecuador, der Schweizer Sébastian Reichenbach und Frankreichs Publikumsliebling Julian Alaphilippe vertreten. Carapaz schüttelte den Schweizer und den Franzosen mit zwei knackigen Antritten ab. Dann setzte Kämna einen Konter, den Radsport-Kenner demnächst ruhigen Gewissens in jedes Standardwerk über taktische Renngestaltung einspeisen können. Er löste sich kurz vor dem Gipfel von Carapaz - gerade so, dass der Ecuadorianer bis zur Bergwertung nicht mehr zurückfand an Kämnas Hinterrad.

So fehlte Carapaz in der folgenden Abfahrt auch ein windschattenspendender Vorfahrer, das Loch wurde stetig immer größer, 150 Meter, 300 Meter, bald 30 Sekunden, 40 Sekunden, am Ende war es mehr als eine Minute. "Ich musste es im Solo rausfahren", sagte Kämna später, im Spurt am kleinen Hügel bis zum Ziel hätten ihn die anderen wohl wieder überrumpelt. Aber als Solist im Flachstück davor, "da wusste ich, dass mich keiner einholt, wenn ich da gut drauftrete" sagte Kämna - er ist ja nicht nur klettererprobt, sondern auch ein guter Zeitfahrer.

Für Carapaz und sein Ineos-Team war es nebenbei der nächste Rückschlag: Die Briten wollten sich zwei Tage, nachdem ihr Vorjahressiegers Egan Bernal schwer eingebrochen war, zumindest mit einem Tageserfolg trösten. Dieser Plan ging am Dienstag sogar fast auf - bis ein 24-Jähriger aus Fischerhude bei Bremen andere Pläne hatte.

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Quelle:
SZ vom 16.09.2020/schm
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