Aus rein sportlicher Sicht war der 15. Juli 2016 kein sonderlich bedeutsamer Tag für die Historie der Tour de France. Ein Einzelzeitfahren nach La Caverne du Pont d’Arc stand an, der Niederländer Tom Dumoulin holte sich den Tagessieg, Christopher Froome festigte seinen Vorsprung in der Gesamtwertung, die er später gewann. Aber ein spezieller Tag war es trotzdem für den Tross. Ein ungewohnt großes Polizeiaufgebot sicherte die Strecke ab, die üblicherweise so schrille Werbekarawane blieb stumm, und am Ende gruppierten sich alle Fahrer, die ein Ehrentrikot trugen, auf dem Podium, für eine Schweigeminute für die Opfer eines Terroranschlags.
Einen Tag vorher war es in Nizza zu einem Attentat gekommen; ein Islamist war mit einem Lastwagen durch eine Menschenmenge gerast, die gerade den Nationalfeiertag feierte. Fast 100 Menschen starben, mehr als 400 wurden verletzt. Die Tour de France mit ihrer Volksnähe ist ein angreifbares Objekt, aber nie in ihrer Geschichte ist etwas Schlimmeres passiert. Doch an jenem Tag im Juli 2016 war ihr die Gefahr so nahe gekommen wie nie.
Doping bei der Tour de France:Widerstand kann so einsam sein
Christophe Bassons war erst großes Talent, dann Nestbeschmutzer. Heute besitzt er nicht einmal mehr ein Rennrad. Ein Besuch beim Saubermann der Tour, der mit großer Skepsis die Darbietungen von Pogacar & Co. verfolgt.
An diesem Wochenende steht die 21. und letzte Etappe der aktuellen Tour an: in Nizza. Es ist ein Einzelzeitfahren, und der Parcours endet genau dort, wo damals das Attentat stattfand: auf der Promenade des Anglais. Zwar erklären die Verantwortlichen des Tour-Veranstalters Aso, das habe nichts mit dem Terrorakt zu tun, sondern das geschehe allein aus technischen Gründen. Und doch entsteht so ein besonderes Zeichen. Denn bereits an diesem Freitag findet auf dieser Strecke noch eine Etappe statt. Allerdings keine, bei der es um die Zeit geht, sondern ums Gedenken und Erinnern. 75 Opfer von Terroranschlägen aus zwölf Ländern werden da den Parcours zwischen Monaco und der Promenade von Nizza schon einmal absolvieren: viele mit dem Fahrrad, aber manche auch auf Handbikes oder sogar im Rollstuhl.
Die Gruppe V-Europa erinnert an Attentatsopfer – und die Tour bietet ihr dafür eine Plattform
Vor vier Jahren hat sich bei der Organisation V-Europe eine Gruppe zusammengefunden, die unter dem Motto „together stronger“ solche Aktionen durchführt. Ins Leben gerufen hat sie der Belgier Aristide Melissas. Er ist selbst das Opfer eines Attentats. Er war 2017 mit seiner Frau in New York, als ein Islamist mit einem Pick-up in die Menschenmenge hineinfuhr, in der sie gerade standen. Seitdem hat er es sich zum Ziel gesetzt, auf die Probleme von Terroropfern aufmerksam zu machen. Seit dem Attentat vom 11. September 2001 habe es weltweit mehr als 145 000 Attentate mit mehr als einer Million Opfern gegeben, rechnet er vor – und mehr als zehn Millionen Menschen, die von dem Leid beeinflusst waren.
Und so hat Melissas vor ein paar Jahren die Macher der Tour de France davon überzeugt, dass sie seiner Gruppe eine Plattform bieten. Immer eine Etappe können sie nun im Rahmen einer Tour vorab abfahren. Eigentlich haben sie sich immer schwere Bergetappen ausgesucht, um zu zeigen, welche Widerstände sie überwinden wollen und welcher Überlebenswille in ihnen steckt. So ist die Gruppe 2021 den Mont Ventoux hinaufgeradelt, im Sommer darauf die Spitzkehren von Alpe d’Huez – und im Vorjahr den Grand Colombier. Diesmal ist der Parcours vielleicht nicht ganz so schwer, dafür aber etwas länger – und „extra symbolisch“, wie Melissas sagt, um ein Zeichen gegen den Terror zu setzen.