Tour de France:Leibchenjagd über mahnende Meilensteine

PASSAGE DU TOUR DE FRANCE SUR LE PLATEAU DES GLIERES

Wie ein Vogel mit einem gesunden und kranken Flügel: das Mahnmal für die Résistance auf dem Plateau des Glières.

(Foto: Grégory Yetchmeniza/dpa)
  • Die zehnte Etappe der diesjährigen Tour de France führt von Annecy nach Le Grand-Bornand.
  • Die Strecke ähnelt ganz bewusst einem Gedenkpfad der entlang der Wegmarken der Résistance.
  • Das Herzstück der Etappe ist das Plateau des Glières, auf dem sich während des Zweiten Weltkrieges der französische Widerstand formierte.

Von Johannes Knuth, Mitarbeit: Matthias Kirsch, Annecy/Le Grand-Bornand

Der Mann von der Gestapo kam am 23. Dezember 1943. Er verlangte nach den Saulniers, Flora und Jean-Marie. Die beiden betrieben in der Rue Jean-Jacques Rousseau ein Hotel, die Auberge du Lyonnais, die sich unscheinbar zwischen den mittelalterlichen Häusern am Fuße des Flusses Thiou einreihte. Die Auberge war seit zwei Jahren ein Nest der Résistance, dem französischen Widerstand gegen die Besatzung. Seit September waren die Deutschen in Annecy, mit Wehrmacht, SS, Ordnungspolizei und Gestapo, und jetzt hatten sie die Auberge endlich enttarnt. Jean-Marie war ein paar Tage zuvor untergetaucht, Flora hatte im Haus die Stellung gehalten. Die Gestapo schickte sie ins KZ Ravensbrück, einen Tag vor Weihnachten.

Heute erinnert eine kleine Gedenktafel in der Rue Jean-Jacques Rousseau an die Saulniers, gelbe Buchstaben auf grauem Stein. Das Haus ist rosa verputzt, dreistöckig, die meisten Passanten hasten vorbei, wenn sie sich überhaupt im Schatten der Gasse verirren. Annecy steht in seiner vollen Schönheit in der prallen Julisonne, lässt Touristen und die Karawane der Tour de France über sich ergehen. Die Brücken über dem Thiou sind mit violetten Petunien geschmückt, in den Eisdielen gibt es Himbeersorbet, an den Häusern aus dem 16. Jahrhundert bröckelt ein wenig der Putz. Es ist, als habe jemand Venedig, Amsterdam und ein Alpendorf gekreuzt und an den Lac d'Annecy gepflanzt.

Schulterschluss mit der Historie

Die Tour geht eigentlich sehr behutsam mit politischen Statements um, doch der Schulterschluss mit der Historie, den sie in diesem Jahr wagen, ist durchaus beachtlich (oder opportunistisch, je nach Sichtweise). Denn die zehnte Etappe, die am Dienstag von Annecy nach Le Grand-Bornand führte, ähnelte ganz bewusst einem Gedenkpfad entlang den Wegmarken der Résistance. Das Herzstück war das Plateau des Glières, ein Berg, der hinter dem Lac d'Annecy gen Himmel wächst. Der Anstieg sei "der schwerste dieser Tour", hatte Frankreichs Hoffnung Romain Bardet zuvor gesagt, sechs Kilometer, durchschnittlich elf Prozent steil. Dann ging es 1800 Meter über eine Schotterpiste, vorbei an dem Denkmal für die Kämpfer, die sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem Plateau versteckten. Das Mahnmal soll einen Vogel mit einem gesunden und einem kranken Flügel symbolisieren, wahlweise ein Victory-Zeichen, mit einem Knick. Es ist ein Ort, der in Frankreich wie kaum ein anderer für die Mühen gegen das scheinbar Unbezwingbare steht. Ein Mythos wie gemacht für die Tour.

Tour de France Profile Strecken
(Foto: ASO)

Wenn man diese historische Etappe am Dienstag, diese 160 Kilometer Zeitgeschichte abfährt, beginnt man am besten am Start in Annecy, in der Rue Jean-Jacques Rousseau, wo die Saulniers wohnten. Jean Marie war Républican, stolz und störrisch, wie so viele Leute im Viertel. Als Annecy im November 1942 an die Italiener fiel, dauerte es nicht lange, ehe der Widerstand die Saulniers kontaktierte. Sie leiteten bald Nachrichten weiter, versteckten Kämpfer, Oppositionelle, Juden auf einer ihrer endlosen Etappen der Flucht. Die Auberge war Briefkasten und Rückgrat der Résistance, direkt unter der Nase von Mussolinis Polizeichef in Annecy. Flora überstand auch die letzten Jahre der Repression, das KZ in Ravensbrück, sie kehrte zu Jean-Marie nach Annecy zurück.

"Dieser historische Aspekt tut der Tour auch gut."

Nach dem Start schlängelt sich die Etappe bis zur südlichen Spitze des Lac d'Annecy. Kurz hinter dem Ort liegen die Urlauber unter dunkelgrünen Fichten an der Promenade Cheltenham, ein paar Jugendliche springen von einem Geländer in den See, gleich neben einem Warnschild ("Nicht springen!"). Ein paar Meter hinter dem Geländer erinnert ein grauer Gedenkstein an den Ort, an dem die französische Milice den Bäcker François Raymond am 14. Februar 1944 in den See warf. Die Milice, die für die Deutschen nach Widerständlern suchte, hatte Raymond zehn Tage lang gefoltert, aber der 35-Jährige, der die Résistance mit Brot und falschen Papieren versorgt hatte, schwieg.

Runter bis zum Südzipfel des Sees, wieder hinauf zum nördlichen Ufer, hinein in die Hochsavoyen. Dort thront es schon, das Plateau des Glières, 1500 Meter hoch, 29 mal 15 Kilometer breit. Im Frühjahr 1944, als Flora Saulnier verhaftet und François Raymond ermordet waren, warfen britische Flugzeuge Waffen auf dem Berg ab, um die Deutschen von der nahenden Invasion in der Normandie abzulenken. Knapp 500 Widerständler stiegen auf den Berg, die Deutschen bombardierten das Plateau im März 1944 mit schwerer Artillerie, 500 Résistance-Kämpfer wehrten sich gegen mehrere tausend Nazis. Vermutlich waren es 5000 Deutsche, die Propaganda der Résistance rundete auf 12 000 auf. Die Deutschen hatten den Widerstand schnell gebrochen, ermordeten und verschleppten rund 120 Kämpfer, aber die Résistance feierte einen "Sieg der Herzen", der dem Land Würde und Stärke eingeflößt habe. Die Briten warfen jetzt immer wieder Waffen ab, Anfang August kletterten rund 3000 Menschen auf das Plateau. Annecy wurde am 19. August 1944 befreit.

Man muss an Gino Bartali denken

"Der Sport ist die Hauptsache, aber dieser historische Aspekt tut der Tour auch gut", hat Christian Prudhomme, der Direktor der Frankreich-Rundfahrt, im vergangenen Jahr im französischen Radio gesagt, als sie die Strecke dieser 105. Tour vorstellten. Und es stimmt ja: Man muss bei dieser historischen Etappe auch an den Italiener Gino Bartali denken, ein Typ so hart wie Olivenholz, der 1938 auf dem Podium in Paris den faschistischen Gruß verweigerte, 1948 die Tour noch einmal gewann. Während des Zweiten Weltkriegs fuhr er mitten durch das von den Deutschen besetzte Italien, in der Sattelstange seines Rennrades steckten gefälschte Pässe für verfolgte und versteckte Juden. Hunderten von Menschen soll Bartali so geholfen haben, niemand kam auf die Idee, den großen Ginetacio zu kontrollieren. Der Staat Israel verlieh Bartali 2013 posthum die Ehrung "Gerechter unter den Völkern", als einzigem Radprofi überhaupt.

Es ist eine schöne Geste, dass die Tour in diesem Jahr dieser Form der Mitmenschlichkeit eine Bühne bietet - vor allem in Zeiten, in denen Europa diskutiert, ob man Flüchtlinge retten oder im Mittelmeer ertrinken lassen soll. Auch wenn die Geschichte der Glières wohl etwas überhöht ist. "Wir wissen mittlerweile, dass die Glières ein Mythos waren, aber das Land hat damals einen Mythos gebraucht, um zu leben", sagt der Historiker Claude Barbier. Das passt heute, aus sportlicher Sicht, gar nicht mal so schlecht zur Tour.

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