Tour-de-France-Siegerin van Vleuten:Ein Krater trennt sie und die Konkurrenz

Tour de France der Frauen 2022: Annemiek van Vleuten im gelben Trikot

Die Niederländerin Annemiek van Vleuten (Mitte) sicherte sich auf der Super Planche des Belles Filles das Double aus Giro- und Tour-Sieg, links die Tour-Zweite Demi Vollering, rechts die Dritte Katarzyna Niewiadoma.

(Foto: Uncredited/dpa)

Der Frauenradsport musste lange um Anerkennung kämpfen. Nun erringt er durch die wiederbelebte Tour de France mit einer niederländischen Gewinnerin neue Popularität - Veranstalter, Fernsehen und Fans sind begeistert.

Von Jean-Marie Magro

Bei 24 Prozent Steigung fällt sogar ein Motorrad zu Boden, aber nicht Annemiek van Vleuten, das 39-jährige Metronom aus Utrecht. Van Vleuten war auf den beiden letzten Etappen der "Tour de France Femmes" und auch auf dem supersteilen Stück hinauf zur Super Planche des Belles Filles die mit Abstand stärkste Fahrerin.

In den Vogesen zeigte sie, wie groß der Krater ist, der sie und die Konkurrenz trennt. Van Vleuten ist, wenn man ihr angelehnt an den früheren Rad-Dominator Eddy Merckx diesen Spitznamen verleihen darf, so etwas wie die Kannibalin des Frauenradsports: mehrmalige Weltmeisterin, Goldmedaillengewinnerin bei Olympia, dreimalige Siegerin des Giro - und nun fügte sie ihrer Trophäensammlung den Sieg bei der Tour de France hinzu.

Vergleiche zu früheren Epochen sind im Radsport so wie in jeder anderen Sportart schnell gezogen. Bei der Tour wurden schon zig Legenden geschrieben und verbreitet. Doch all diese Legenden besingen die Heldentaten und tragischen Schicksale von Männern. Der Frauenradsport hingegen musste lange um Anerkennung kämpfen - wie sich etwa in einer Fernsehsequenz aus dem Jahr 1987 zeigte.

Nach einer Etappe kamen damals mehrere Fahrer im französischen Fernsehen zusammen. In einer sonst reinen Männerrunde nahm die seinerzeit beste Radsportlerin der Welt Platz, Jeannie Longo. Unter den Teilnehmern war auch Laurent Fignon, zweimaliger Tour-Sieger und zu seiner aktiven Zeit "le professeur" genannt, der kurz zuvor erklärt hatte, der Frauenradsport sei nicht schön, gar "hässlich" anzusehen. Und neben ihm saß ein Obermacho des damaligen Feldes: Marc Madiot, frisch gekürter französischer Straßenmeister.

26 Prozent Marktanteil, 20 Millionen Zuschauer - das französische Fernsehen ist zufrieden

Er attackierte die amtierende Weltmeisterin mehrmals direkt und weit unter der Gürtellinie: Im Sport spiele Ästhetik eine große Rolle. "Es gibt Sportarten, die sind feminin, und es gibt Sportarten, die sind maskulin", philosophierte Madiot: "Frauen beim Tanzen zuzusehen, ist sehr hübsch, ihnen beim Fußballspielen oder Radfahren zuzusehen, grauenvoll." Longo versuchte sich immer wieder einzubringen, wurde aber von dem vor Testosteron strotzenden Madiot gebremst: "Radsport ist ein sehr harter Sport, und ich liebe Frauen zu sehr, als dass ich sie leiden sehen möchte."

35 Jahre nach dieser unwürdigen Szene und nach vielen Talfahrten ist der Frauenradsport nun auf einem neuen Gipfel der Popularität angekommen. Nach acht Etappen über knapp 1000 Kilometer Strecke ziehen Veranstalter und Fernsehen ein durchweg positives Fazit für die erste "Tour de France Femmes". Zwischen 1984 und 2009 hatte es zwar eine Vorgängerveranstaltung gegeben, die aber wegen abnehmenden Interesses eingestampft wurde, 2014 bis 2021 gab es lediglich ein eintägiges Rennen. In diesem Jahr aber hat sich die Tour-Organisation Aso dafür entschieden, die alte Idee einer Landesrundfahrt wiederaufflammen zu lassen - und der Erfolg war immens.

Über die acht Renntage hinweg waren zwar nicht ganz so viele Fans am Straßenrand zu sehen wie bei den Männern, aber trotzdem eine beachtliche Menge. Auch das französische Fernsehen zeigt sich mit einem Marktanteil von 26 Prozent und rund 20 Millionen Zuschauern zufrieden. Und dass Frauen auf einem Fahrrad eine schlechtere Figur machen würden als Männer, war schon zur Zeit von Madiot und Fignon ein Märchen.

Die Siegerin van Vleuten trat die Anstiege in den Vogesen mit der Wucht einer Dampfwalze nach oben, dass selbst einige männliche Kollegen staunten. Die Zweitplatzierte Demi Vollering, Bergspezialistin aus den Niederlanden, gewann große Sympathien, weil sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Berg quälte. Und Fahrerinnen wie die Polin Katarzyna Niewiadoma oder die dänische Meisterin Cecilie Uttrup Ludwig bewegten sich mit beachtlicher Leichtigkeit über die Anstiege.

Van Vleuten erhält 50 000 Euro Prämie - mehr als in jedem anderen Rennen, aber nur ein Zehntel von Männer-Sieger Vingegaard

Dabei diente diese Rundfahrt aber auch abseits des Podiums als Brennglas, um auf die Entwicklungen im Frauenradsport aufmerksam zu machen. Die Fortschritte in den vergangenen Jahren sind immens. Immer weniger Athletinnen müssen parallel zu ihrem Sport einen Beruf ausüben, sondern können ein Leben als Profi führen. Die Preisgelder wurden angehoben: Van Vleuten erhielt 50 000 Euro Siegprämie - so viel wie bei keinem anderen Rennen im Kalender. Allerdings auch nur ein Zehntel des männlichen Tour-Siegers Jonas Vingegaard.

Die Tour-Direktorin Marion Rousse, selbst früher Radfahrerin und heute Kommentatorin beim französischen Fernsehen, ist sich sicher, dass die Frauen-Tour ein langfristiges Projekt sein werde - und dass viele junge Mädchen von den Leistungen dieser Fahrerinnen inspiriert werden würden. Zugleich wurde bei der Tour aber auch deutlich, dass das Leistungsgefälle bei den Frauen erheblich ist, weil sich die Trainingsbedingungen von Team zu Team sehr unterscheiden.

Einige Mannschaften, vor allem die von Sponsoren, die bereits eine Männerequipe ausstatten, haben große finanzielle Vorteile gegenüber anderen. Hinzu kommt, dass die Professionalisierung des Frauenradsports in den Niederlanden früher anfing als in anderen Ländern. Davon zehren die Fahrerinnen heute. Sechs Tagessiege sowie die ersten beiden Plätze der Gesamtwertung gingen an Niederländerinnen.

Was Marc Madiot, der frühere Obermacho und heutige Teamchef von Groupama-FDJ, von der ersten Austragung der "Tour de France Femmes" hält, hat er noch nicht zum Besten gegeben. Jeannie Longo wiederum wurde dieser Tage nach ihm gefragt. Sie sagte, Madiot sei ein junger Mann gewesen, einer von vielen damals, die nicht wollten, dass Frauen das taten, wodurch sie sich auszeichneten. Heute aber würden sie sich sogar mit Küsschen Hallo sagen. Dem Parisien sagte die heute 63-jährige Longo: "Das Radsport-Milieu hat versucht, unser Feuer zu löschen. Und das, obwohl das Spektakel, das die Frauen bieten, dem der Männer ebenbürtig ist."

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