Tour de France:Der totale Niedergang des Radsports

Auf der Suche nach so etwas wie Vorbildern, im Ekel vor all den Tricksern, Schweigern, Blutaustauschern muss man mittlerweile schon sehr tief in der Kiste der Erinnerung kramen.

Alex Rühle

Als Jan Ullrich 1996 Zweiter bei der Tour de France wurde, erhielt er ein Telegramm aus einem Berliner Altersheim. Ein 88-jähriger Mann namens Kurt Stöpel schrieb, er habe "mit heißem Herzen" Ullrichs Fahrt aufs Podium verfolgt. Ullrich kannte den Mann nicht. Wie auch. Stöpel wurde ja nur Zweiter, damals. 1932 war das. Drei Sekunden hinter dem Franzosen Andre Leducq. Drei Sekunden: Ein Atemzug. Zehn Meter. Oder die Zeit, die man braucht, um den folgenden Satz zu lesen: "In Paris nimmt Leducq den Strauß, den er bei der Ehrenrunde bekommen hat, und überreicht ihn meiner Frau: 'Madame Stopel', sagt er bescheiden, ,wir beide, Kurt und ich, haben die Tour gewonnen!"

Tour de France

Keine Idole mehr: die Radsportler von heute.

(Foto: Foto: dpa)

Klingt das nostalgisch? Ja! Aber was soll man denn machen. Auf der Suche nach so etwas wie Vorbildern, im Ekel vor all den Tricksern, Schweigern, Blutaustauschern muss man mittlerweile schon sehr tief in der Kiste der Erinnerung kramen, so tief, bis man bei den Schwarzweißbildern ankommt, bei Leuten wie Kurt Stöpel, der 1932 Zeit fand, neben der Tour noch Tagebuch zu führen. Und dessen Doping darin bestand, dass er beim Schreiben immer wieder in Ekstase geriet über die Schönheit der Landschaft. Und dass er sich mit seinem Konkurrenten Leducq ein Kaffecognac-Gemisch teilte, das ihnen vom Straßenrand gereicht wurde.

Heute werden die Tour-Fahrer schon entlarvt, bevor man noch ihre Namen verinnerlicht hat. Wir haben gerade erst gelernt, dass die Dänen Michael Rasmussen Hühnchen nennen, da weiß man schon nicht mehr, fährt er noch dem Feld voran, oder schon vor den Dopingfahndern davon. Winokurow schämt sich nicht mal für die behämmerte Ausrede, die Werte bei dem Bluttest kämen daher, dass sich nach seinem Sturz zuviel Blut in seinen Beinen gesammelt habe. Und Jan Ullrich wirkt in seinem Schweigen langsam wie ein Borderliner.

Ullrich sagte einmal: "Ich habe oft oben am Berg gedacht: Warum bin ich nicht Schachspieler geworden?'' Das zeigt die Lösung für uns Zuschauer: Wir sollten uns stillere Idole suchen. Vergrübelte Schachspieler. Experten im Handtaschenstreicheln. Kieselsteinsammler. Tagebuchradler wie Kurt Stöpel.

Und tatsächlich: Auf den jährlich neu kursierenden Listen über die wichtigsten Vorbilder und Idole stehen Leute wie Mutter Teresa, Che Guevara, Gandhi oder Martin Luther King immer wieder ganz oben. Viele der Befragten, die diese Figuren der Zeitgeschichte angeben, können sie auf Nachfrage historisch gar nicht genau einordnen, diese Helden sind eher Figuren eines ethischen Pop-Olymps als Vorbilder, von denen man sich konkrete Handlungsanweisungen erwartet, sie sind diffuse Sehnsuchtsfiguren von einem besseren Leben. Von Sportlern erwartet das wahrscheinlich eh keiner mehr.

Am 11. Juni 1997, drei Wochen bevor die Tour begann, auf der Jan Ullrich als erster Deutscher die Tour gewinnen sollte, wollte sich Kurt Stöpel in der Küche seines Altersheims etwas zu trinken holen. Aus Versehen griff er zu einer Flasche Reinigungsmittel. Er starb noch am selben Tag. So verpasste er Ullrichs großen Triumph. Es blieb ihm aber auch der totale Niedergang des Radsports erspart.

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