Kolumbianer bei der Tour de France:"Man sah mich als Verräter"

Kolumbianer bei der Tour de France: Erfolgs- und Leidensgeschichten: Egan Bernal (links) und Rigoberto Urán auf der 13. Tour-Etappe.

Erfolgs- und Leidensgeschichten: Egan Bernal (links) und Rigoberto Urán auf der 13. Tour-Etappe.

(Foto: Anne-Christine Poujouat/AFP)

Kolumbiens Radsport spielt auch bei der aktuellen Rundfahrt eine prägende Rolle - aber die Erfolgsgeschichten werden von Dopingenthüllungen begleitet. Anruf bei einem, der es wagte, zu reden.

Von Johannes Aumüller und Javier Cáceres

Wenn Juan Pablo Villegas, 32, in seinem Geburtsort Pácora, einem 13 000-Einwohner-Städtchen im kolumbianischen Distrikt Caldas, die Etappen der aktuellen Tour de France im Fernsehen sieht, empfindet er noch immer so etwas wie Freude. "Wissen Sie", sagt er ins Telefon, "ich sehe dann Fahrer, die ich teilweise schon als Kinder kennengelernt habe. Ich sehe sie vor mir mit zerrissenen Hemden und Schuhen, an denen sich die Sohlen lösen, auf schlechten Fahrrädern, auf der Suche nach einem Traum."

Villegas war selbst einmal einer von ihnen, ein Radprofi mit großen Träumen. Er hat damals genug gesehen, um zu wissen, welches Leid sich dahinter verbirgt. Und Realitäten, die ihn davon Abstand nehmen lassen, die Hand für alle, die jetzt in Frankreich fahren, ins Feuer zu legen.

Villegas hatte diese Realitäten sehr klar adressiert: in einem Interview aus dem Jahr 2015. Die Welt schaute damals gebannt auf die Erfolge kolumbianischer Radsportler, und Villegas tat etwas Unerhörtes. Er sprach offen aus, dass es auch im kolumbianischen Radsport Doping gebe. Das Echo? Drohungen. Todesdrohungen. "In sozialen Netzwerken. Per Textnachrichten. Der ganze Radsport drehte mir den Rücken zu. Man sah mich als Verräter", sagt Villegas. Wer ihm drohte, ließe sich eingrenzen "auf einen Kreis von höchstens zehn Personen, die ich kenne". Menschen, die den Radsport in seinem Land kontrollierten. Und die das Doping mindestens befördert hatten. Ihre Namen nennt er nicht. So wie er damals niemanden nannte, als er öffentlich über Doping sprach. Und es auch heute nicht tut, da sein Name längst aus dem Peloton verschwunden ist.

"Man wollte mich provozieren, mich in Rennen zum Sturz bringen", sagt Villegas

Kolumbien spielt im Radsport und bei der Tour noch immer eine große Rolle. Vorjahreschampion Egan Bernal, 23, musste die diesjährige Frankreich-Schleife zwar schon vorzeitig beenden, und der ewige Nairo Quintana müht sich auch im Umfeld einer neuen Mannschaft vergeblich. Dafür trat Rigoberto Urán, der Tour-Dritte von 2017, zumindest phasenweise wieder überzeugender auf. Und Miguel Ángel López, 26, Kapitän der Astana-Equipe, Spitzname "Supermán", erwies sich bis zuletzt als hartnäckigster Herausforderer des slowenischen Top-Duos Primoz Roglic und Tadej Pogacar. Er gewann am Mittwoch sogar vor den beiden die 17. Etappe mit dem höllischen Schlussanstieg am Col de la Loze, auf 2304 Meter Höhe. "Meine erste Tour, und dann klappt es gleich mit dem Etappensieg. Ein ganz besonderer Tag für mich", sagte López und betonte: "Es war ein Vorteil, dass das Ziel so weit oben war. Das ist fast so wie bei mir in Kolumbien."

López' Auftritt unterstreicht, wie groß das Reservoir an starken Fahrern in diesem Land ist. Aber zu dieser prominenten Rolle des Landes im Radsport gehören eben nicht nur die Geschichten von Bernal, Quintana und López. Sondern auch jene von zahlreichen Dopingfällen, oder jene von Juan Pablo Villegas. Kurz nach seinem Dopinginterview 2015 und den Morddrohungen hatte er seinen Rücktritt ausgesprochen, den er aber noch einmal zurücknahm. Was sollte er auch sonst machen? Wo doch seine Frau ein Kind erwartete? Erst Ende 2018 war er es endgültig leid.

"Ich hatte zwei Jahre der Dunkelheit hinter mir. Jahre, in denen ich behandelt wurde, als hätte ich ein Verbrechen begangen", sagt er heute. "Man wollte mich provozieren, mich in Rennen zum Sturz bringen. Ein Trainer suchte nach Gelegenheiten, mich rauszuwerfen." Der Stress habe ihn an den Rand einer Depression gebracht und ermattet, obwohl der Körper eigentlich noch wollte: "Ich hätte meiner Karriere locker drei, vier weitere Jahre einen Pedalstoß geben können."

Wer ergründen will, warum Kolumbiens Radsportler so stark sind, der hört oft dieselben Argumente: die Leidenschaft der Fahrer, die einstmals Lucho Herrera begründete; ihre eigentümlichen Biografien, das Aufwachsen auf großer Höhe.

Villegas steht prototypisch für diese Biografien. Er ist an den Hängen der Anden aufgewachsen, im Schoß einer Familie von Landarbeitern. Kaffee und Bananen, das war sein Universum.

Auf dem BMX-Rad die Berge hoch

"Wir haben alle von unserer Kindheit an große Anforderungen zu bewältigen gehabt", sagt er, "allein schon, um in die Schule kommen. Von dem Tag an, da ich sieben wurde, fuhr ich täglich mit dem Fahrrad eine Stunde zur Schule. Bergauf." Der Vater brauchte die Ersparnisse der Familie für ein BMX-Rad auf. Das stählte die Beine, weitete die Lungen und bereitete den Körper auf das Profitum vor. Villegas genoss das, weil es ihm Spaß machte und sich die Fenster in die Welt für ihn nun im Wortsinn öffneten. "Ich lernte andere Länder kennen, in Amerika, Asien, Europa", sagt er: "Bis ich 18 war, dachte ich, das Ende der Welt wäre dort, wo die Gebirge aufhören."

Das sind Geschichten, wie sie auch von Quintana und Bernal erzählt werden. Nur dass es bei Villegas irgendwann anders weiterging. Weil er mit den Jahren gelernt habe, dass es im Radsport "nicht nur um Beine, Willen und Opferbereitschaft ging", sondern auch um das eine oder andere Mittelchen. Vokabeln wie Epo und Hormone tauchten auf, man kennt sie aus den Geschichten rund um den gefallenen Tourhelden Lance Armstrong. Man habe ihm nie direkt etwas angeboten, sagt Villegas, aber er habe oft ein Säuseln gehört, das so viele Sportler zum Erliegen bringt.

"Du bist so gut", sagten sie. "Wenn du schon sauber unter den besten Fünf bist ...", insistierten sie. "Du könntest fliegen!", versprachen sie.

Die Alternative: Siege liegen lassen. Und das Geld, das ständig fehlte. Geld für die Fahrten zu den Rennen in den Städten, das zusammengekratzt werden musste; für Rennräder, die den Namen verdienten, für teure, importierte Ersatzteile.

"Wir wussten: Viele, die vor uns landeten, hatten nicht nur Beine und Talent"

Villegas sagt, es sei für ihn keine Frage gewesen, Nein zu sagen. Es sei nur darum gegangen, so zu leben, wie es ihm seine Eltern beigebracht hatten. Seine Familie lebte ja oft von der Hand in den Mund: "Zu Beginn einer Woche wussten wir nicht immer, ob wir am Wochenende unser Essen bezahlen könnten", sagt er. "Es gibt Familien, die keinen anderen Ausweg sehen, als zu klauen, um zu überleben. Mir wurde beigebracht, niemandem etwas zu nehmen. Und Doping heißt am Ende, einem anderen die Arbeit wegzunehmen."

Diese Dichotomie habe ihn oft genug zerrissen. Das führte auch dazu, dass er schon früh den Gedanken hatte, mit dem Radsport aufzuhören. Wenn er im Gruppetto zehn, zwanzig, dreißig Minuten hinter dem Sieger ins Ziel kam, kreisten die Gespräche immer häufiger ums selbe Thema: "Wir wussten: Viele, die vor uns landeten, hatten nicht nur Beine und Talent. Das Erste, was wir uns sagten: Wenn es doch so etwas gäbe wie Chancengleichheit. Wenn schlicht der Bessere gewänne ..."

Stattdessen stieg der Druck für jene Fahrer, die aus Verhältnissen stammen, die keinen Weg in solide Ausbildungswege oder gar in die Universitäten bereithalten. Diese Fahrer hatten oft längst Familien gegründet und ein Leben in den Radsport investiert, weil nur so eine bessere Zukunft zu erklimmen war. "Ich will nicht undankbar sein, ich hatte gute Verträge", sagt Villegas. Aber Ersparnisse, um etwa ein Café aufzumachen, in dem er selbst gerösteten Kaffee hätte servieren können, bekam er nie zusammen. Der beste Kontrakt seiner Karriere lag bei 25 000 US-Dollar - im Jahr. Und doch sagte er sogar öffentlich Nein.

Seine Absicht, sagt er, sei es gewesen, die Verhältnisse aufzuzeigen, um sie zu verbessern - wer weiß, welche Krankheiten man riskiert, wenn man sich vollpumpt mit all den Drogen. Der Preis dafür waren Jahre der Dunkelheit, in denen er das Gefühl hatte, "die Welt hätte mir einen Tritt in den Abfall verpasst".

Villegas sagt, er habe sich mit Quintana getroffen

Im Peloton, sagt Villegas, sei er mit allen gut Freund gewesen. Aber die Kontakte wurden spärlicher. Nicht nur zu Quintana, mit dem er als Jugendlicher zusammen gefahren war, und den er nun nicht behelligen wollte, weil er wusste, dass ihn der Ruhm verzehrte. Hin und wieder ein Chat, das war's. Vergangenes Jahr hätten sie sich dann doch getroffen. "Wir haben lange miteinander gesprochen, und was er sagte, machte mich stolz: 'Bruder, es ist nicht gerecht, dass du deine Karriere beenden musstest. Egal was auch passiert, viele Kolumbianer werden dich bewundern. Du bist ein sehr mutiger Mann und warst ein großartiger Sportler.'" So erinnert sich Villegas an das Gespräch. Ein Sprecher von Quintanas Arkea-Team teilte auf eine Anfrage am Donnerstag mit, Quintana könne dazu heute nichts sagen. Auch sonst äußert sich öffentlich kaum noch jemand. "Die meisten nahmen eine neutrale Position ein", sagt Villegas. Nicht unbedingt, weil das ihrer Philosophie entspräche, "sondern um Probleme zu vermeiden, oder das gleiche Schicksal wie ich zu erleiden."

Und dennoch: "Ich richte niemanden, der sich anders entscheidet", sagt Villegas, und er redet vielleicht nur deshalb so, weil es unlängst eine ungeahnte Wendung gab. Jemand wollte von ihm wissen, ob er nicht für den panamaischen Verband arbeiten wolle - als Nationaltrainer: "Juan, wir wissen, wofür du stehst: für transparenten, sauberen Radsport. Genau deswegen wollen wir dich", habe der Mann gesagt, und: "Wir werden daraus kein großes Thema machen. Aber wir wollen, dass du unseren Radfahrern deine Mentalität vermittelst." Man wolle auch dafür sorgen, dass die Fahrer studieren können, "das hat mich sehr motiviert", sagt Villegas.

Den Job trat er in diesem Jahr an, aber noch habe er ihn nicht wirklich ausfüllen können: Auch in Lateinamerika hinterlässt die Corona-Pandemie tiefe Spuren. Und auch wenn Villegas am Hörer eine Stunde lang ganz und gar nicht so klingt, als wäre er ein prätentiöser Mensch, so wagt er am Ende doch ein erstaunliches Fazit: dass er trotz aller Anstrengungen glaubt, "der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen zu haben".

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