Süddeutsche Zeitung

Tour de France:Der Triumph des Käfers

  • Als erster Südamerikaner fährt der Kolumbianer Egan Bernal am Sonntag im Gelben Trikot auf die Champs-Élysées.
  • Er wird mit 22 Jahren der jüngste Sieger seit dem Zweiten Weltkrieg sein. Auf der letzten Etappe wird der Führende traditionell nicht mehr attackiert.
  • Der Ravensburger Emanuel Buchmann wird Vierter. Der Franzose Julian Alaphilippe fällt zurück.

Von Johannes Knuth, Val Thorens

Und dann, nach knapp drei Wochen voller Jubel, Tränen und sonstigem Gelärme, war es die Stille, die die größte Kraft entfaltete. Egan Bernal schritt durch den Zielraum in Val Thorens, er zog erst seine Verlobte an sich, dann seinen Vater, so standen sie da und taten eine Weile lang: nichts. Außer schweigen und weinen. Er könne das alles noch nicht begreifen, sagte der designierte Sieger der 106. Tour de France später, als er seiner Stille entflohen war, ihm gehe das alles ein bisschen zu schnell.

Der Gesamtsieg bei der Tour war seinen Vorgängern aus der radsportbegeisterten Heimat ja immer verwehrt geblieben: Luis Alberto Herrera, Fabio Parra, Nairo Quintana, all die berühmten "Käfer", wie sie die leichten Kletterer in Kolumbien rufen, wegen der gekrümmten Haltung auf dem Rad. Und jetzt: Wird der 22 Jahre alte Käfer vom Team Ineos an diesem Sonntag wahrhaftig das Gelbe Trikot nach Paris fahren, wo der Führende traditionell nicht mehr attackiert wird. Da wurde sogar Geraint Thomas, sein Teamkollege und sonst großer Fan des britischen Understatements, ein bisschen poetisch: Bernal, sagte Thomas, sei einfach "geboren, um schnell die Berge hinaufzufahren".

In Bogota, der Hauptstadt, werden sie sich am Samstagabend angemessen ihrer Euphorie hingegeben haben. In Zipaquira sowieso, eine Autostunde von Bogota und auf 2600 Metern gelegen, wo Bernal einst aufwuchs. Dass er die schwerste Rundfahrt der Welt schon in diesem Jahr an sich reißen würde, das war gar nicht so unwahrscheinlich gewesen: Er hatte schon im Vorjahr, als Thomas noch die Tour gewann, als dessen Helfer in den Bergen brilliert. Ende Juni gewann er auch die Tour de Suisse, nur eineinhalb Monate nach einem Schlüsselbeinbruch. Nur: 22 Jahre - so jung war seit dem Zweiten Weltkrieg kein Sieger bei der Tour mehr, die eigentlich lange, schmerzhafte Lehrjahre einfordert. Und das Drehbuch, das das Rennen sich für diesen Coup ersonnen hatte, wäre in mancher Produktionsfirma wohl auch nicht durchgegangen. Wie auch Emanuel Buchmanns vierter Platz im Klassement; in derartiges Territorium waren zuvor überhaupt erst drei Deutsche vorgestoßen: die dopingumwitterten Jan Ullrich und Andreas Klöden, außerdem ein gewisser Kurt Stöpel 1932.

Die Hinführung zu diesem aufwühlenden Finale hatte schon am Freitag begonnen, auf der vorletzten Alpenprüfung nach Tignes. Nach 30 Kilometern rutsche Thibaut Pinot plötzlich aus dem Peloton, die große Hoffnung der Franzosen, die in den Pyrenäen noch so unverwundbar gewirkt hatte. Eine Muskelverletzung war wieder aufgebrochen, Tränen kullerten unter Pinots Sonnenbrille hervor. Dann stieg er vom Rad, und mit ihm verdampften alle Hoffnungen auf den ersten französischen Tour-Sieg seit 34. Jahren. Eines Tages, hatte Pinot noch vor der Tour gesagt, werden sich all sein Pech, die krankheitsbedingten Aufgaben und Malaisen, ins Gegenteil verkehren. Nur halt nicht in diesem Jahr, wieder einmal.

Nicht wenige dachten, dass das größte Drama des Tages sich schon ereignet hatte, aber das Rennen hatte anderes vor. Bernal sprang im Anstieg zum 2770 Meter hohen Col d'Iseran zunächst der Gruppe der Favoriten davon, je höher es bei dieser Tour ging, desto wohler fühlte der Kolumbianer sich, klar. "Ich wollte es einfach versuchen", sagte er später, "und wenn es nicht geklappt hätte, dann hätte ich noch viele Rundfahrten vor mir gehabt." Aber es lief zunächst prächtig. Bis sich ein Unwetter einmischte, als sei das alles noch nicht aufwühlend genug. Es hagelte und regnete, eine Schlammlawine wälzte sich über die Straße, auf der die Führenden vom Iseran gerade ins Tal rauschten. Der Tour-Organisation bliebt nichts anderes übrig, als die Etappe abzubrechen. Sie kürten keinen Tagessieger, ließen aber den Zwischenstand am Iseran in die Gesamtwertung einfließen. Dort war Bernal so weit vorne gewesen, dass er Julian Alaphilippe das Gelbe Trikot entriss, aber der Franzose lag noch immer vor Thomas, Steven Kruijswijk und Buchmann. "Die Tour de France war bis hierhin schon verrückt", schrieb das Rundfahrt-Organ L'Équipe, "aber jetzt flirtet sie mit der Unwirklichkeit."

Auch die 20. Etappe am Samstag war davon betroffen: Drei Schlammlawinen hatten die geplante Route oberhalb von Albertville getroffen, die Organisatoren trimmten den Abschnitt auf knapp 60 Kilometer herunter. Die Hälfte davon ging es quälend lange 33 Kilometer nach Val Thorens hinauf, knapp sechs Prozent steil im Schnitt. Und dort machte Kruijswijk's Jumbo-Visma-Team zunächst mächtig Tempo, um Alaphilippe abzuschütteln und Kruijswijk den Weg aufs Podium freizuräumen. Der Franzose klammerte sich bis zur Hälfte des Anstiegs an seine schmalen Hoffnungen - es glich schon einem mittelprächtigen Wunder, dass er, der Experte für die explosiven Eintagesklassiker, noch immer mit den Favoriten kämpfte. Dann entwich ihm doch die Kraft. Er wurde am Ende Gesamt-Fünfter, 3:45 Minuten hinter Bernal. Vorne gewann der Italiener Vincenzo Nibali die Etappe, dahinter wagte Buchmann einen letzten Angriff auf Kruijswijk - doch die Mühe verpuffte, der Holländer sicherte seinen dritten Platz (1:31 Minuten zurück). Knapp hinter Thomas (1:11), der Zweiter wurde, und 27 Sekunden vor dem Deutschen.

Vor dem Hotel von Buchmanns Bora-hansgrohe Equipe lagen sie sich später trotzdem in den Armen, ein Mechaniker drückte den 60 Kilo leichten Buchmann sogar derart, dass man kurzzeitig um sein Wohlergehen fürchtete. "Absolut geil", sagte Buchmann in seinem nüchternen, schwäbischen Stakkato, mit dem er schon die Aufgeregtheit der letzten Tage moderiert hatte. "Wenn man mir das vor vier Wochen gesagt hätte, dann wäre ich da mehr als zufrieden gewesen", befand er. Am Samstag habe er nun mal "nicht die beschten Beine" gehabt, da müsse man auch mal anerkennen, dass die anderen besser sind. Und für einen Angriff aufs Podium bleibe ihm ja noch ein bisschen Zeit. "Ich glaube", sagte Buchmann, "ich bin noch nicht am Ende."

Und Bernal? Was macht so ein Erfolg mit einem 22-Jährigen, der vor vier Jahren noch von fast allen Spähern übersehen wurde, ehe ihn die Briten von Ineos an die Spitze schossen - auch wenn bei all den vielen Merkwürdigkeiten rund um das Team in der Vergangenheit immer mit einem Sauergeschmack daherkommt? "Ich will in Zukunft einfach all das genießen, was ich an diesem Sport liebe", sagte Bernal: "Ich liebe es einfach, Rad zu fahren. Ich liebe das Gefühl, in den Bergen zu leiden, das Gefühl, nicht zu wissen, ob du bereit bist oder nicht, und ob es deine Rivalen sind oder nicht." So gesehen hat diese 106. Tour einen würdigen Sieger gefunden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4542303
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/schm
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.