Tour de France:"All wörks well in ze Pelotong"

Tour de France: An der Strecke gibt es in diesem Jahr deutlich weniger Zuschauer - dafür vermelden die Fernsehsender in diversen Ländern Rekordquoten.

An der Strecke gibt es in diesem Jahr deutlich weniger Zuschauer - dafür vermelden die Fernsehsender in diversen Ländern Rekordquoten.

(Foto: Marco Bertorello/AFP)

Das größte Radrennen der Welt ist Spektakel, Geschäft, Tourismus-Werbefilm, Doping und Nationalheiligtum. Aber auch während der Pandemie? Zeit für ein Zwischenfazit.

Von Johannes Knuth

Die Tour war noch gar nicht losgerollt, vor zwei Wochen beim Grand Départ in Nizza, da hatte sie schon wieder Unvergleichliches geschafft: einen Maskenball, aber nur mit Masken, ohne Ball. Das Areal der Fahrerpräsentation, das sonst von einem Volksfest umspült wird, war zur Sperrzone mutiert. Draußen hielten schwarze Styroporwände die Neugierigen ab. Drinnen rollten 176 Fahrer auf eine Bühne, viele der 1000 Plätze davor waren vakant. Und wenn die Kameras an die Fahrer heranzoomten, um die Leere zu überspielen, sah man vor allem auf Masken, hinter denen sich die Emotionen versteckten. Das ist ja ein unbestrittener Effekt der Corona-Maskerade: Sie krempelt alle und alles ein wenig nach innen.

Radrennen leben immer auch davon, dass sie die Nähe zum Publikum suchen, und die Tour, das größte Rennen von allen, war darin natürlich besonders versiert. Das hatte den praktischen Nebeneffekt, dass das Publikum umso weniger an die Abgründe zu denken schien, je näher es an den Teambussen an seine Helden rückte, für Autogramme und Plaudereien. Aber nun, bei der 107. Auflage der Tour, gehen alle auf Distanz, um zu überleben. Die Tour ist auch die wichtigste Bühne für die Sponsoren der Teams, für deutsche Küchen- und Bäderhersteller, holländische Supermärkte und britische Chemie-Giganten. Ohne Rennen keine TV-Bilder, ohne TV-Bilder kein Werbewert, ohne Werbewert keine Sponsoren, die rund 90 Prozent der Team-Budgets berappen. Ganz einfach.

Nicht wenige hielten es für wahnwitzig, als die Tour in Nizza aufbrach: Da wurde eine noch immer stattliche Karawane durch eine Pandemie gescheucht, um eine Velo-Industrie am Leben zu halten. Aber natürlich war die Tour immer auch ein bisschen mehr als knallhartes Business, sie war Spektakel, Tourismus, Doping, Nationalheiligtum. Und jetzt?

Poupou fehlt

Tour de France: Trotz Warnungen versammeln sich Fans an der Strecke.

Trotz Warnungen versammeln sich Fans an der Strecke.

(Foto: Marco Bertorello/AFP)

Bevor die Fahrer vor jeder Etappe ausschwärmen, verschmilzt die Szene für gewöhnlich im Village Départ: Reporter, Gäste, aktuelle Profis, die sich zum Start anmelden, und einstige Fahrer, die sich feiern lassen - auch bei der Tour kommt ja nichts so richtig weg. Diesmal? Werden die aktuellen Fahrer ferngehalten, viele alte bleiben lieber fern, und wer als Gast ins Village kommt, so berichten es Augenzeugen, verläuft sich fast, so luftig sind die Etappendörfer in diesem Jahr konzipiert. Aber an den Ständen der Sponsoren wirkt alles wie immer. Die kostenlosen Stofftiere und Schlüsselanhänger lassen das Abstandsgebot verschwimmen, un petit peu.

Nur bei Crédit Lyonnais, dem Sponsor des Gelben Trikots, fehlt etwas. Sie gaben dort früher ohnehin kaum Geschenke aus, sie hatten ja was viel Besseres im Angebot: Raymond Poulidor, Kosename "Poupou", dreimal Zweiter bei der Tour. Der Bauernsohn, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren doch immer gegen Jacques Anquetil und Eddy Merckx verlor, aber trotzdem geliebt wurde oder gerade deshalb: Die Franzosen ehren auch diejenigen, die bei dieser unmenschlichen Qual knapp scheitern. Es war eine feine Ironie, dass Poulidor seit 2001 für jenes Trikot warb, das er nie gewann; er war im Village Départ immer leicht zu finden, wo er war, waren die Menschen. "Poupou" war nahbar, auf ihn war immer Verlass, während seiner Profikarriere, die sich über fast zwei Jahrzehnte spannte, danach sowieso. Die Tour 2020 ist die erste ohne ihn, Poulidor ist im vergangenen November gestorben. Und mit ihm auch ein wenig von diesem Gefühl, dass manche Dinge immer überdauern - komme, was wolle.

Schlauer stürzen

Tour-Direktor Prudhomme positiv auf Corona getestet

Positiv auf Corona getestet: Tour-Direktor Christian Prudhomme.

(Foto: Christophe Ena/dpa)

Als Christian Prudhomme, der Chef der Tour, vor der Rundfahrt sein Hygienekonzept vorstellte, kleidete er das in den gewagten Slogan: "Keine Isolation, aber Abstand". Alle acht Fahrer einer Mannschaft und ihre 22 Betreuer sollten sich in einer Blase bewegen, sie sollten sich rund um die Etappen abschotten, auch vor den Reportern. Das hat zur Folge, dass die Fahrer in diesem Jahr auch nur kurze Wortschnipsel vor und nach den Etappen absetzen, meist sagen sie, dass es ihnen gut geht oder nicht so gut, solche Dinge halt. Das kritische Nachhaken wird da natürlich fast völlig weggeschliffen. Auch die Teamchefs sind jetzt unter sich, ein Bjarne Riis und ein Alexander Winokourow, die als Profis einst lernten, dass ohne Stoff nichts läuft - und jetzt die neue Generation anleiten.

Wobei die meisten Mannschaften sich wirklich tapfer bemühen, eine Grundversorgung an Zitaten sicherzustellen, per Audioschnipseln in digitalen Gruppenchats. Da fragt der österreichische Presseattaché dann den Görlitzer Sportchef der oberbayerischen Bora-Mannschaft, wie der Tag denn diesmal so verlaufen sei. "All wörks well in ze Pelotong", sagt der Sportchef, und man möchte für einen Moment glauben, dass gerade tatsächlich alles prächtig zusammenschnurrt. Manchmal schleicht sich sogar etwas Heiterkeit in dieses Treiben, man kann sich vor allem auf die Österreicher verlassen, die es wie immer schaffen, den Ernst der Lage zu boykottieren. Lukas Pöstlberger, der während der ersten Woche stürzt, berichtet im Anschluss, dass das mit den Abschürfungen gar nicht so schlimm sei. Denn: "Wenn man von sechzig auf null obabremst (für Nicht-Österreicher: herunterbremst), dann rutscht man auch ned so weit." Eh klar.

In der roten Zone

Tour de France: Eine Liebesbeziehung auf Distanz: Viele Franzosen befolgen in diesem Jahr den Rat, die Tour am TV oder aus der Ferne zu beobachten.

Eine Liebesbeziehung auf Distanz: Viele Franzosen befolgen in diesem Jahr den Rat, die Tour am TV oder aus der Ferne zu beobachten.

(Foto: Marco Bertorello/AFP)

Wenn sie die Alpen erreichen, an diesem Wochenende, dann haben sie zwei Drittel des Rennens geschafft. Dann sind die verflixten Champs-Elysées in Paris tatsächlich in Sichtweite. Aber da ist noch immer ein Berg an Fragen: Wie viele Zuschauer werden an die Anstiege bei den entscheidenden Bergetappen strömen, jetzt, da sich in Guillaume Martin immer noch ein Franzose weit vorne platzieren kann (wobei er am Freitag in der Auvergne sehr viel Zeit auf die Führenden verlor)? Was wird aus den Massen, die in den Pyrenäen von dem Rennen angezogen wurden wie ein Magnet? Was bringen die nächsten Corona-Tests am Ruhetag am Montag? Zwei Positivfälle in einem Team, egal von wem, und die ganze Auswahl ist raus. Auch der Komplettabbruch schwebt noch immer über der Tour, die Corona-Zahlen erreichten in Frankreich zuletzt neue Hochstände: fast 10 000 Infektionen während eines Tages. Und wenn die Tour am Wochenende die Alpenregion erreicht, taucht sie auch in eine Zone ein, die deutsche und französische Behörden vor Kurzem als Risikogebiet eingestuft haben, die Franzosen gar als "zone rouge", rote Zone. Zuschauer, die sich in den vergangenen zwei Wochen zumindest in kleiner Zahl an Start- und Ziel versammeln durften, sollen dort nun ausgesperrt bleiben.

Ob das reicht?

Welches Risikogebiet?

"Die Tour ist ein Mosaik aus tausend Steinchen", hat der französische TV-Journalist Jean-Paul Ollivier einmal gesagt, aber das Wichtigste, so Ollivier, seien die Landschaften. Ja, wirklich: "Die Tour erlaubt es den Franzosen, ihr eigenes Land kennenzulernen." Ollivier muss es wissen, er stellte den Franzosen 41 Jahre lang die Schlösser, Klöster und Seen ihres wirklich wunderschönen Landes vor. Dieser Werbestreifen zieht auch jetzt prächtig, die Reporter impfen den Zuschauern sämtliche Attraktionen und Etappenorte ein, Orcières-Merlette, Cazères-sur-Garonne, La-Roche-sur-Foron. Und das Panorama rund um die Île de Ré erst - hach! Wollte man nicht eh mal wieder an den Atlantik? Corona-Risikogebiet? Welches Risikogebiet?

Die TV-Sender quer durch Europa melden gerade Rekordquoten, auch in Frankreich, wo viele dann doch die Bitte der Organisatoren beherzigen, das Rennen lieber am Bildschirm zu verfolgen. Ralph Denk, der Chef der Bora-Hansgrohe-Equipe, hatte schon recht: Die Tour ist diesmal vor allem ein Business, das Drumherum ist spürbar heruntergedimmt. Aber die Fahrer finden das gar nicht so schlecht, ihr Verhältnis zu den Fans war immer etwas ambivalent, der Ire Nicolas Roche hat es zuletzt erst gesagt: Die Tour zieht die Enthusiasten an, aber auch die Selbstdarsteller und Idioten, die Selfiesticks in den Rennfahrerpulk halten oder missliebige Fahrer mit Urinbeuteln bewerfen. Er traue es sich fast nicht zu sagen, gestand auch Guillaume Martin zuletzt, eine der französischen Hoffnungen, aber die Tour sei in diesem Jahr wesentlich entspannter.

Schaut so aus, als brauchte es nur eine Lungenpandemie, damit auch die Tour endlich einmal durchatmen kann.

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