Süddeutsche Zeitung

Tour de France:Befremdliches Bergspektakel

Die Tour 2023 wird wieder extrem schwer und kletterlastig. Das ist nicht nicht nur wegen der berechtigten Dauerskepsis erstaunlich - die Rundfahrt schadet so ihrem eigenen Gesamtprodukt.

Kommentar von Johannes Aumüller

Das ist ja mal eine gute Nachricht für die Radsportler, dass irgendwann in den vergangenen paar Millionen Jahren die Plattentektonik und der Vulkanismus aufgehört haben, Frankreich neue Erhebungen zu schenken. Wer weiß schon, zu welchen Gemeinheiten die Macher der Tour de France bei der Planung der nächsten Streckenroute fähig gewesen wären, stünden in der Grande Nation noch ein paar andere Gebirgsketten herum.

Alle Macht den Bergen, das ist das Motto für die Auflage im Sommer 2023. Durch alle fünf Bergzüge des Landes muss sich das Peloton quälen. Acht Hochgebirgsetappen sind vorgesehen, mit der Rückkehr auf den Vulkan Puy de Dome nach dreieinhalb Jahrzehnten Abstinenz und einer Königsetappe durch die Vogesen am vorletzten Tag als Höhepunkten. Flachetappen gibt es dafür nur sechs und Zeitfahr-Kilometer bloß 22 - und damit so wenige wie nie seit Einführung der Disziplin 1934.

"Sehr schön", sei das, rühmt Tadej Pogacar, der Gesamtsieger von 2020 und 2021, der sich nun wieder ewige Kämpfe mit dem diesjährigen Triumphator Jonas Vingegaard und anderen Experten fürs Hochgebirge liefern kann. Aber so wirklich schön ist das nicht, für den neutralen Beobachter zumindest.

Das Streckendesign ist auf immer mehr Spektakel und Schwierigkeiten aus

Es ist schon seit ein paar Jahren zu beobachten, wie sich der Ablauf der Tour verändert. Noch in den dopinggetränkten Neunziger- und Nullerjahren gehörten zum Standardprogramm der Drei-Wochen-Schleife viele ruhige Flachetappen, auf denen außer einem Zielsprint wenig Spektakuläres passierte. Inzwischen herrscht auf fast jedem Abschnitt Action. Das liegt an der Fahrweise des Pelotons, es liegt aber auch am Design der Strecke, das auf immer mehr Spektakel aus ist.

Das wirkt nicht nur angesichts der berechtigten Dauerskepsis an der Szene befremdlich: Die angeblich sauberen Helden von heute fahren die Anstiege teils schneller hoch als die Allesnehmer von damals, und das mit weniger Erholung dazwischen. Zugleich ist ein derartiges Streckenlayout nicht angemessen gegenüber vielen Profis. Die Sprinter werden bei der Tour de France schon seit Jahren zunehmend stiefmütterlich behandelt. Bei nur sechs Flachetappen überlegt sich jeder von ihnen seine Teilnahme zweimal. Beziehungsweise grübelt jeder Teamchef darüber, wie viel Sinn es hat, einen Sprinter klassischer Bauart ins Aufgebot zu nehmen, wenn dieser an wenigen Tagen über eine reelle Siegchance verfügt - und die Schlacht in den Bergen alle Kräfte verlangt.

Die Tour de France hat immer auch davon gelebt, ein Ereignis zu sein, in dem alle Spezialisten zu ihrem Recht kommen: die Kletterer wie die Zeitfahrer, die Pedaleure wie die Sprinter. Wenn man sich zu sehr auf das Spektakel in den Bergen konzentriert, zerstört die Schleife ihr eigenes Gesamtkunstwerk.

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