Tour de France Femmes:Vier-Sekunden-Krimi für die Ewigkeit

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Katarzyna Niewiadoma stemmt ihr Rad in die Höhe und feiert ihren Vier-Sekunden-Sieg bei der Tour de Femmes. (Foto: Julien de Rosa/AFP)

Im Finale nach Alpe d’Huez entscheiden vier Sekunden über den Gesamtsieg der Polin Katarzyna Niewiadoma. Das dramatische Rennen zeigt, dass der Frauenradsport seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat – und auf eine bessere Zukunft hoffen kann.

Von Korbinian Eisenberger

Über sieben Kurven muss man treten, dann eröffnet sich hinauf nach Alpe d’Huez die sogenannte „Dutch corner“. Im Holländereck steigen bei der Tour de France traditionell die wildesten Feten, Feierbiester der Radsportszene finden sich viele Tage vor den Profis dort ein – und so gehört der Ort längst zu Alpe d’Huez wie die Champs Élysées zu Paris. All das ist dem niederländischen Pfarrer Jaap Reuten zu verdanken, der 1964 beim Skifahren, so die Überlieferung, an Kehre sieben ein Gotteshaus vermisste und dort alsbald eine Kirche errichten ließ. Beim Etappensieg seines Landsmanns Joop Zoetemelk 1976 läutete Pfarrer Reuten dort höchstselbst die Glocken. Seitdem beschallt der Kirchenturm in Kehre sieben jeden niederländischen Sieg, acht waren es bis dato. Und dann, am Sonntagabend, läutete die niederländische Sieger-Glocke zum neunten Mal.

Die dritte Frankreichrundfahrt der Frauen wird im Gedächtnis der Menschen in der Dutch corner eventuell einen besonderen Platz erhalten. Dort und an sämtlichen 21 Serpentinen dieses von Mythen umrankten Berges bevölkerten campierende Menschen samt orangefarbenen Leibchen und Fahnen einmal mehr seit Tagen den Streckenrand. Der „Berg der Holländer“, wie Alpe d’Huez auch genannt wird, entfachte erneut seine ganze Wucht. Zur finalen Etappe der Tour de France Femmes war dort alles angerichtet für niederländische Festspiele. Doch diesmal schwang beim Erklingen der Glocken ein Hauch Melancholie mit.

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Bei der letzten und schwersten Etappe dieser Rundfahrt gelang den beiden Niederländerinnen Demi Vollering und Pauliena Rooijakkers zwar ein Doppelsieg. 60 Sekunden nach ihrer Ankunft war aber klar, dass Vollering ihren Gesamtsieg vom Vorjahr um wenige Meter und Sekunden verpassen würde. Es triumphierte die Polin Katarzyna Niewiadoma vom deutschen Team Canyon-SRAM Racing, die als Tagesvierte über die Ziellinie rollte, vier Sekunden Vorsprung auf die Niederländerin rettete und damit ihr Gelbes Trikot im Gesamtklassement verteidigte. Liane Lippert vom Team Movistar landete als beste Deutsche mit 14:40 Minuten Rückstand auf dem 18. Platz. Nie zuvor, auch nicht in der Männerkonkurrenz, hatte sich bei der Tour de France eine so knappe Entscheidung um den Gesamtsieg zugetragen. Das zeigten auch die Bilder danach.

Katarzyna Niewiadoma, vor einem Jahr noch Dritte, wurde ihres Sieges augenscheinlich erst weit hinter der Ziellinie gewahr. Und sie wäre wohl – wie kurz zuvor Vollering – erschöpft vom Rad gefallen, hätte nicht eine Traube von Gratulanten sie alsbald umzingelt und über ihren Toursieg informiert, übrigens der erste für Polen seit 1903. Fassungslosigkeit und Überwältigung überkamen sie nun, keine Chance, die Tränen zurückzuhalten. „Es ist verrückt, die ganze Etappe war eine verrückte Achterbahnfahrt“, sagte sie später, „es war so herausfordernd, so schwer.“

Katarzyna Niewiadoma (Mitte) mit Demi Vollering (links) und Pauliena Rooijakkers. (Foto: Peter Dejong/dpa)

Vollering von der Equipe SD Worx-Protime war in die Schlussetappe über 149,9 Kilometer mit einem Rückstand von 1:15 Minuten gegangen, den sie sich auf der fünften Etappe eingehandelt hatte, als die 27-Jährige in einen Massensturz geriet und 1:19 Minuten auf Niewiadoma verlor. Doch sie gab nicht auf und lancierte eine letzte Attacke, die nur Rooijakkers parieren konnte – die im Gesamtklassement zu Etappenbeginn noch zwei Sekunden vor ihr gelegen war. Die 21 Serpentinen hinauf nach Alpe d’Huez fuhren Vollering und Rooijakkers (Fenix-Deceuninck) gemeinsam, im Zielsprint zog Vollering an ihrer vier Jahre älteren Kontrahentin vorbei und sicherte sich zehn Bonussekunden. Und während im Holländereck die Glocken erklangen, ging es weiter oben nun um das große Ganze.

Katarzyna Niewiadoma durfte sich wegen der Zeitgutschrift der Etappensiegerin nunmehr maximal eine Minute und vier Sekunden Rückstand einhandeln. „Ich wusste, im Schlussanstieg von Alp d’Huez muss ich mein gleichmäßiges Tempo fahren“, sagte sie danach. „Ich habe permanent alle Zwischenzeiten auf mein Ohr bekommen.“ Und so kam es, wie es kam: Auf den letzten Metern entwischte ihr noch die Französin Evita Muzic und sicherte sich die letzte Zeitgutschrift und erhöhte den Druck auf die Frau in Gelb. Die quälte sich ein, zwei Radlängen hinter Muzic über den Zielstrich. Reicht das? Die Zeitnahme blieb bei 1:01 Minuten stehen. Es reichte. Vier Sekunden nach 949,7 Kilometern und insgesamt gut 24 Nettostunden im Sattel. Das gab es noch nie.

Gleichberechtigung im Sport ist noch nicht auf allen Ebenen Realität

Klar gehört zur Betrachtung, dass die Frankreichrundfahrt der Männer bei etatmäßig 21 Etappen und viel mehr Bergen deutlich länger und schwieriger ist – und die Abstände entsprechend größer. Ein vergleichbar knappes Duell um Gelb gab es bei den Männern in 111. Auflagen einmal: 1989 gewann Greg LeMond – auch dank eines finalen Zeitfahrens – mit acht Sekunden Vorsprung auf seinen französischen Konkurrenten Laurent Fignon. In diesem Jahr indes dominierte der Slowene Tadej Pogacar die Konkurrenz fast schon spielerisch und gewann mit mehr als sechs Minuten Vorsprung. Wirklich spannend wurde es dabei nie. Und so ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass diese Tour de France Femmes, wie die Frankreich-Rundfahrt der Frauen offiziell heißt, eventuell gute Werbung für den Radsport war.

Mit der Gleichberechtigung von Frauen hat sich ja auch die Sportwelt lange zweifelsfrei schwergetan, das lässt sich in vielen Sparten der Bewegungsbranche erkennen. So manches ist aber im Wandel: Professionelle Skispringerinnen etwa dürfen darauf hoffen, dass aus der womöglich noch als halbherzig einzustufenden Two-Nights-Tour eine mit dem Männerformat vergleichbare Vierschanzentournee erwächst. Die Fußballerinnen haben eine attraktive Champions League erwirkt. In der neu gegründeten US-Frauen-Basketballliga WNBA können inzwischen anders als zuvor viele Spielerinnen gut Geld verdienen. Und im Radsport?

Im internationalen Vergleich war Deutschland historisch gesehen – im Wortsinn – kein gutes Pflaster für Straßenrennradfahrerinnen. 1963 etwa vertrat die Zeitschrift Radsport die Ansicht: „Wettbewerbe der Frauen mögen vielleicht auf manchen Gebieten attraktiv sein, zum Beispiel im Kunstfahren; im Rennsport sind sie es nicht. Denn hier hat in den meisten Fällen Venus vergessen, einen Strahl ihrer Gunst auf ihre radelnden Kolleginnen zu schicken.“ Der damalige Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) Erwin Hauck ließ zwei Jahre später wissen: „Solange ich hier Präsident bin, wird es im BDR keinen Rennsport für Frauen geben.“ In Belgien, den Niederlanden oder in Frankreich wurde es radfahrenden Frauen seinerzeit, gelinde gesagt, leichter gemacht.

Noch vor 15 Jahren gab es „Eleganz-Preise“ für Frauen

1984 führten die Veranstalter der Tour de France der Männer erstmals ein Format für Frauen ein, das in seiner letzten Phase Grande Boucle Féminine hieß – und nicht nur durch moderne Gedanken bestach. Nach Etappenende etwa wurde bis 2009 täglich ein sogenannter „Preis der Eleganz“ vergeben, was nicht zuletzt auf weibliche Äußerlichkeiten abzielte – zum Abschluss bekam eine Fahrerin für die zweifelhafte Auszeichnung „Super-Elegance“.

Die Tour de France Femmes wertet dagegen wie die Tour der Männer. Tour-Chefin Marion Rousse hat unlängst erklärt, die Frankreich-Rundfahrt der Frauen nach den vorherigen vergeblichen Versuchen langfristig etablieren zu wollen, zukünftig könne man darüber nachdenken, die Anzahl der Etappen zu erweitern. 2024 gastierte die Tour de France Femmes erstmals in Belgien und den Niederlanden. Dem Vernehmen nach wären auch Besuche in anderen Nachbarländern vorstellbar – vielleicht sogar in einem deutschen Eck.

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