Süddeutsche Zeitung

Tottenham Hotspur:Gruseln im Wembley

Dortmunds Auftakt-Gegner Tottenham Hotspur hat einen Kader voller Talente und große Ziele - aber ein kurioses Problem: Die Heimspiele werden in der Fremde ausgetragen. Und die Mannschaft kommt damit nicht zurecht.

Von Sven Haist, London

Auf den ersten Blick ist das Problem der Tottenham Hotspur nicht zu verstehen. Das Wembley gehört zu den beliebtesten Stadien im Weltfußball, jeder Kicker möchte einmal an diesem geschichtsträchtigen Ort spielen. Die Spurs haben wegen des Umbaus ihrer Arena White Hart Lane zur New White Hart Lane den Luxus, in dieser Saison alle Heimspiele in Englands Nationalstadion austragen zu dürfen. Nur möchte Tottenham diesen Luxus gar nicht haben. Von den vergangenen zehn Spielen im Wembley haben die Spurs lediglich eins gewonnen: das wertlose Duell in der Champions League gegen ZSKA Moskau im Dezember 2016 (3:1). Zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, dass Tottenham den internationalen Wettbewerb in der Europa League fortsetzen muss.

Das Problem: Es gibt keine Alternative. Die in London ansässigen Vereine vertragen sich sowieso kaum miteinander, aber mit den Spurs verträgt sich jeder Klub immer noch etwas weniger.

Folglich fand sich niemand, der im Sommer 2016 sein Stadion zur Überbrückung anbot. Die Premier League erlaubte dem Klub zwar im Gegensatz zum europäischen Fußballverband Uefa, die Heimspiele in der Liga und im Pokal an der White Hart Lane auszutragen. In dieser Saison sind die Renovierungsarbeiten jedoch zu gravierend. Also spielt Tottenham bis zur Fertigstellung der neuen Arena pausenlos im Wembley - und sucht nach dem Grund für die miserable Bilanz. Zufall kann sie mittlerweile nicht mehr sein; das heimstärkste Team der Vorsaison brachte zuletzt bloß ein Unentschieden (FC Burnley) und eine Niederlage (FC Chelsea) zustande. Immerhin liegen die Spurs mit sieben Punkten in der Premier League aber noch in Reichweite zur Tabellenspitze.

Nach der Aufbauarbeit in den Anfangsjahren unter Trainer Mauricio Pochettino mit der Einbindung eigener Talente aus dem Nachwuchs (Harry Kane, Dele Alli) ist der Anspruch stetig gestiegen. In Pochettinos vierter Saison möchte Tottenham endlich - zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte - Meister in der Premier League werden. Nebenbei darf es in der Champions League, die am Mittwoch (im Wembley) gegen Borussia Dortmund beginnt, gerne über die Gruppenphase hinausgehen. Wäre da nur nicht - Vorsicht, Grusel! - die Phobie vor: Wembley.

Vor ein paar Wochen verglich die Times beide Stadien (die abgerissene White Hart Lane und das Wembley) im Detail miteinander. An den Ausmaßen der Fußballfelder (in der Regel 105 x 68 Meter) ließ sich erkennen, dass der Platz an der White Hart Lane (100 x 67) um fünf Meter kürzer und um zwei Meter schmäler ist als der im Wembley (105 x 69)

. Wer das mathematisch betrachtet, stellt fest, dass der Unterschied nicht so einfach zu vernachlässigen ist. Aus der Multiplikation von Länge und Breite ergibt sich ein Flächenunterschied (6700 zu 7245 Quadratmeter) von 545 Quadratmetern, der fast der Größe eines Strafraums entspricht. Das frühe Attackieren Tottenhams wird dadurch erschwert; der Weg zu den Gegenspielern wird weiter, ebenso erhöht sich der Freiraum hinter der Abwehr bei Kontern des Gegners. Auch der Einfluss der Zuschauer hat abgenommen. An der 118 Jahre alten White Hart Lane konnten die Fans bei jedem Einwurf die Spieler berühren - so dicht saßen sie am Rasen.

Der markante Einfluss dieser Veränderungen auf den Erfolg der Mannschaft zeigt die Unerfahrenheit im Kader. Da findet sich kein Spieler, der in seiner Karriere einen renommierten Titel gewonnen hat. Bei entscheidenden Prüfungen fehlt jemand, an dem sich die Profis orientieren können; jemand, der ihnen den Weg weist. Selbst für Trainer Pochettino, 45, ist Tottenham ja der erste große Klub seiner Karriere. Statt sich Wissen einzukaufen, möchten die Protagonisten sich das Wissen selbst erarbeiten. Die löbliche Idee benötigt Zeit - die Tottenham jedoch nicht mehr hat.

Ohne baldige Titelgewinne dürften die Begehrlichkeiten anderer Vereine an den besten Spielern der Spurs zum Problem werden. Die Verbundenheit der teils selbst ausgebildeten Profis reicht dann nicht mehr, um die jungen Himmelsstürmer trotz finanziell besser dotierter Angebote zum Bleiben zu bewegen. Den Verlust des für rund 50 Millionen Euro zu Manchester City abgewanderten Rechtsverteidigers Kyle Walker konnten die Spurs aber noch ausgleichen; in ihrer Akademie fand sich ein 20-Jähriger fast gleichen Namens - Kyle Walker-Peters.

Ein Abgang von Harry Kane aber, der soeben die 100-Tore-Marke bei Tottenham passierte, ließe sich nicht ohne weiteres mit einem Harry Kane-Smith ersetzen. Selbst wenn der Verein einen Spieler dieses Namens finden würde. Das gleiche gilt für Kanes genialen Partner Alli. Der Spielmacher muss gegen Dortmund eine Sperre absitzen, die er sich in der Vorsaison eingehandelt hat. Im Bestreben, die besten Profis des Teams zusammenzuhalten, den Wunsch nach Trophäen zu erfüllen, könnte Tottenham ab kommenden Sommer zumindest auf ein Argument zurückgreifen: das neue Stadion.

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Quelle:
SZ vom 13.09.2017
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