Alles oder nichts, so scheint es dem Trainer Ange Postecoglou bei Tottenham Hotspur am liebsten zu sein. Nach 24 Spieltagen der Premier League hat seine Mannschaft lediglich drei Unentschieden erzielt, neben Brentford die wenigsten von allen 20 Klubs. Seine Sieg-oder-Niederlage-Einstellung passt zu den Spurs, deren Vereinsmotto lautet: Zu wagen heißt machen („to dare is to do“). Entsprechend wählte der Klub einst für eine Netflix-Dokumentation über seine Saison 2019/20 den Titel „All or Nothing“ aus. Allerdings wartet Tottenham real seit 15 Jahren auf einen Titel, zuletzt holte man 2008 den Ligapokal (EFL-Cup), in dem alle Klubs aus den ersten vier englischen Profiligen antreten. Auch in dieser Saison sieht es so aus, als würde man hinter den Erwartungen bleiben, in den vergangenen zwölf Ligaspielen gab es gerade mal zwei Siege.
Dadurch sind die Spurs in der Tabelle auf Platz 14 durchgereicht worden, der Rückstand auf die anvisierten Champions-League-Ränge beträgt stattliche 16 Punkte. Deshalb steht für Tottenham im Halbfinal-Rückspiel des EFL-Cups beim FC Liverpool (Donnerstag, 21 Uhr) quasi bereits alles auf dem Spiel. Der Wettbewerb bietet den kriselnden Spurs die einzige realistische Chance in dieser Saison auf ein Ende der langen titellosen Zeit. Der Weg ins Finale im FA Cup und in der Europa League, in denen der Klub auch noch vertreten ist, ist weitaus beschwerlicher. Immerhin reist Tottenham mit einem knappen 1:0-Vorsprung aus dem ersten Duell zum souveränen Ligaspitzenreiter nach Anfield.

Tels Wechsel von Bayern zu Tottenham:Vorläufiges Ende eines Versprechens
Abschluss eines Transfer-Hickhacks: Mathys Tel wechselt nun doch zur Leihe mit Kaufoption nach England. Die Frage ist: Gewinnt der FC Bayern damit wichtiges Geld – oder verliert er ein wichtiges Talent?
Die Lage bei den Spurs fühlt sich gerade so angespannt an, als würde der Klub in Liverpool vor einer Zerreißprobe stehen. Vielleicht ist die Partie auch genau das, insbesondere für den immer stärker in der Kritik stehenden Trainer. Doch Postecoglou lässt sich Unmutsbekundungen der Fans und Spekulationen über eine mögliche Abberufung nicht gefallen. Als er kürzlich gefragt wurde, ob er beim Liverpool-Spiel noch im Amt sein werde, konterte er: „Wer weiß, Mate? Ich schätze, ein Großeil wird Nein sagen.“ Seine Entschlossenheit bekam auch ein Fan ab, der ihn auf dem Weg zum Stadionausgang provozierte. Postecoglou drehte um und starrte ihn an.
In Tottenham erweist sich der Australier als ebenso wortgewaltig und streitbar wie seine berühmten Vorgänger José Mourinho und Antonio Conte – beide konnten sich bei den Spurs jeweils nur anderthalb Jahre halten. Obwohl Postecoglou im Vergleich zu ihnen in seinen bisher 19 Monaten die dürftigste Bilanz aufweist, besitzt er bisher den Rückhalt des Klubchefs Daniel Levy – mutmaßlich, weil er sein Team so bedingungslos angreifen lässt, wie Mourinho und Conte einst zur Ernüchterung des Publikums verteidigen ließen.
Um Postecoglou den Rücken zu stärken, verpflichtete der Klub in der Wintertransferperiode vier neue Profis – darunter Mathys Tel vom FC Bayern
Die Londoner Newszeitung i Paper beschrieb den 59-Jährigen als „brillanten, sturen Fußballpuristen“. In Tottenhams Ligaspielen sind die meisten Tore gefallen, insgesamt 85, was mehr als dreieinhalb Treffern pro Match entspricht. „Fühlt ihr euch nicht unterhalten?“, witzelte Postecoglou jüngst nach einem 4:3-Sieg nach 3:0-Führung. Anfangs waren Klub und Öffentlichkeit sehr angetan vom Risikofußball des Trainers. Im Herbst 2023 führte Tottenham die Tabelle an, die Spurs waren damals das attraktivste Ding der Liga.
Doch dieses Tempo ließ sich nicht durchhalten. Die Probleme sind nun ersichtlich: Es mangelt an Balance, Konstanz und Stabilität. Ein Vorwurf an Postecoglou ist, dass die Verletzungsmisere – die Spurs müssen in Liverpool auf bis zu elf Spieler verzichten – auch ein Resultat des sehr kräftezehrenden Spielstils sein könnte. Dem widerspricht der Trainer, er hält die Ausfall-Liste eher für Pech. Immer wenn er Licht am Ende des Tunnels gesehen habe, sei es „meist ein entgegenkommender Zug“ gewesen, betonte er sarkastisch.

Wie eine Zusammenfassung des Status quo wirkt das spektakulärste Tottenham-Spiel unter Postecoglou aus der Vorsaison: Man legte zu Hause gegen Chelsea furios los und führte, verlor dann zwei Schlüsselspieler verletzt, handelte sich zwei Platzverweise ein, wurde ausgekontert und hätte dennoch am Ende fast ein Remis geholt. Die Stimmung unter den Anhängern kippte erstmals nach dem turbulenten 3:6-Ligadebakel gegen Liverpool im Dezember. Damals fand am Spieltag eine kuriose Marketingkampagne von Netflix für die Veröffentlichung einer südkoreanischen Erfolgsserie im Tottenham Stadium statt – Kapitän der Spurs ist der Südkoreaner Heung-min Son.
Die Aktion löste einen Aufschrei beim Stammpublikum aus, ein Fan beschwerte sich seinerzeit, der Klub sei inzwischen in erster Linie ein Unterhaltungszentrum und erst dann ein Fußballverein – wobei Postecoglou hier womöglich scharfsinnig einwenden würde, dass Fußball doch Unterhaltung sei, oder nicht, Mate? Das von ihm fast inflationär nachgeschobene „Mate“ (Kumpel) als rhetorisches Stilmittel lasse ihn um viele Dinge herumkommen, erklärte der Trainer mal. Es bewahrt ihn und den Klub aber nicht vor Unzufriedenheit. Auf einem Spurs-Plakat stand zuletzt: „24 Jahre, 16 Trainer, 1 Trophäe – Zeit für einen Umsturz“.
Um Postecoglou trotzdem den Rücken zu stärken, verpflichtete der Klub für den ausgedünnten Kader in der soeben beendeten Wintertransferperiode vier neue Profis, darunter auf den letzten Drücker den Innenverteidiger Kevin Danso (RC Lens) sowie den Stürmer Mathys Tel vom FC Bayern. Beide sind bis Saisonende ausgeliehen und könnten je nach Eintreffen der Arbeitspapiere gegen Liverpool bereits mitwirken. Angesichts der Unberechenbarkeit der Spurs lässt sich das Cup-Match kaum prognostizieren. Fest steht, dass es am Ende einen Sieger gibt. Tottenham würde nach dem 1:0 im Hinspiel ein Remis für den Finaleinzug reichen.