Natürlich war Johannes Sellin mit dem Plan seines Arbeitgebers einverstanden. Als der HC Erlangen den Europameister von 2016 für den glücklosen Hartmut Mayerhoffer vom Co-Trainer auf den Chefsessel befördert hatte, um den drohenden Abstieg zu vermeiden, geschah das mit der Aussicht, in der kommenden Saison eine neue Mannschaft aufzubauen. Im Zentrum dieses Facelifts sollte der neue Bundesliga-Torschützenkönig stehen: Manuel Zehnder. „Ich bin davon ausgegangen, dass er da ist, das hat sich aber zerschlagen“, musste Sellin zur Kenntnis nehmen.
Der Spielmacher war nach einem mäßigen Jahr in Erlangen vergangene Saison an den ThSV Eisenach ausgeliehen worden. Und erst beim Thüringer Ligakonkurrenten war dem 24-Jährigen unter seinem ehemaligen Trainer Misha Kaufmann, mit dem er schon beim Schweizer Erstligisten Aarau zusammenarbeitete, der Durchbruch gelungen. Der Schweizer Nationalspieler warf nicht nur die meisten Tore in der weltbesten Handballliga, er war maßgeblich daran beteiligt, dass die als erster Absteiger gehandelten Eisenacher weitaus weniger Probleme mit dem Klassenerhalt hatten als sein Arbeitgeber HC Erlangen.
Der hatte den Vertrag mit Zehnder vorzeitig bis 2026 verlängert, nun also sollte Sellin um ihn eine neue Mannschaft aufbauen. Alles schien gut, bis sich Zehnder, dem es an Selbstbewusstsein nicht gerade mangelt, für höhere Aufgaben berufen fühlte und gegen seinen Vertrag beim HCE klagte.
Doch das Nürnberger Landesarbeitsgericht wies die Klage ab, eine außergerichtliche Einigung scheiterte an den Ablöseforderungen der Erlanger an Eisenach. Zehnder blieb die Möglichkeit, ein Hauptsacheverfahren anzustrengen, welches sich aber über ein halbes Jahr ziehen würde, damit wäre der Bundesliga-Torschützenkönig mindestens die halbe Saison auf Eis gelegt – keine schöne Vorstellung für Verein und Spieler. Der HCE fand dann aber nicht nur schnell Ersatz und verpflichtete den norwegischen Nationalspieler Sander Överjordet für die Schaltzentrale im Team – sondern auch einen Abnehmer für den widerspenstigen Spielmacher: Zehnder wechselt zum deutschen Meister und Champions-League-Sieger der Vorsaison, zum SC Magdeburg. Dort soll er den Schweden Felix Claar ersetzen, der sich bei den Olympischen Spielen am Fuß verletzt hat und länger verletzt ausfällt.
Fast für alle Beteiligten ist nun eine zufriedenstellende Lösung gefunden – nur für den ThSV Eisenach nicht
Eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung – nur für den ThSV Eisenach nicht. Die Thüringer hätten ihren Besten gerne gehalten, besonders Landsmann Kaufmann gilt als Trainer-Mentor des Schweizers. Magdeburg indes übernahm nicht nur die Ablöse, die dem Vernehmen nach im mittleren sechsstelligen Bereich liegen soll, sondern war den Erlangern auch bei einer weiteren Personalie behilflich. Weil sich Nico Büdel, der neben Överjordet für die Spielgestaltung zuständig sein sollte, wegen eines freien Gelenkkörpers im Knie einer Operation unterziehen muss und mindestens zwei Monate ausfällt, mussten die Erlanger einen weiteren Akteur für die Rückraummitte finden – was nun ebenfalls äußerst zufriedenstellend gelang.
Unter Federführung von HCE-Präsident Carsten Bissel und auf Vermittlung der Magdeburger wird der ehemalige slowenische Nationalspieler Marko Bezjak vom kroatischen Erstligisten RK Nexe Nasice ins Mittelfränkische wechseln. Bezjak gilt als Ziehsohn des ebenfalls am Transfer beteiligten SCM-Trainers Bennet Wiegert und spielte zehn Jahre für die Sachsen-Anhalter, ehe er in der Vorsaison nach Kroatien wechselte. Zwar hat Bezjak kürzlich das 38. Lebensjahr erreicht, befindet sich aber nach wie vor in einem erstklassigen körperlichen Zustand, was er unter anderem in der European League unter Beweis stellte. Bezjak hat mit Magdeburg sämtliche bedeutenden Vereinstitel gewonnen: die Champions League, die deutsche Meisterschaft und den Pokal, die European League und den Weltpokal.
Zudem ähnelt der physische und abwehrstarke Slowene in seinem Spiel dem Kollegen Büdel, aufgrund seiner großen Erfahrung auf höchstem spielerischen Niveau sollte Bezjak auch relativ problemlos in das Erlanger Spiel zu integrieren sein. Zusammen mit dem zehn Jahre jüngeren Överjordet kann sich Sellin also auch ohne Manuel Zehnder auf ein schlagkräftiges Duo auf der Spielmacherposition freuen. Freilich gelte es fortan, mit Hochdruck an der Feinabstimmung zu arbeiten. Das Trainingslager in Leipzig mit Testspielen gegen den ortsansässigen Ligakonkurrenten sowie den polnischen Champions-League-Klub Wisla Plock komme da sehr gelegen.
Die bisherigen Ergebnisse waren indes wenig ansehnlich, besonders das jüngste 25:29 gegen den Zweitligisten HSC Coburg. Zuvor waren die Erlanger Meister Magdeburg (26:32) sowie dem Schweizer Meister Schaffhausen (28:31) unterlegen, Sellin aber erinnerte daran, dass er in die Terminierung nicht eingebunden war: „Die Spiele standen lange fest, ich habe die Vorbereitung aber auf die Saison ausgelegt, nicht auf die Testspiele.“
Zudem fehlten die beiden Olympiateilnehmer Christoph Steinert und der slowenischen Torhüter Klemen Ferlin, auch die harten Trainingseinheiten der vergangenen Tage hatten Spuren hinterlassen: „Uns ist in der zweiten Halbzeit die Kraft ausgegangen.“ Sellin habe vor allem auf die Abwehrarbeit den Fokus gelegt, was vorwiegend in der ersten Halbzeit funktioniert habe, insgesamt war der Trainer aber nicht unzufrieden. Neben Spielmacher Överjordet, der zum norwegischen Olympiakader zählte, dort aber als Ersatzspieler nicht zum Einsatz kam, und seine Qualitäten in der Spielführung zeigte, überzeugte der neue algerische Nationaltorhüter Khalifa Ghedbane. Auch mit den ersten Auftritten von U21-Nationalspieler Marek Nissen, der vom Zweitligisten Lübbecke kam, und dem polnische Nationalkreisläufer Maciej Gebala, wechselte vom Ligakonkurrenten Leipzig, war Sellin nicht unzufrieden.
Gleichwohl benötigen die Zugänge noch Eingewöhnungszeit, athletisch habe Sellin die Arbeit zu 80 Prozent erledigt. Um spielerisch zum Saisonstart „perfekt auf den Punkt“ zu sein, bleiben dem Trainer knapp drei Wochen, sagt Sellin. Das ist sein neuer Plan.