Tony Martin vor der Straßenrad-WM:Der gegen den Schmerz fährt

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Gold-Hoffnung bei der Straßen-WM: Tony Martin. (Foto: dpa)

2012 wurde sein Gesicht bei einem Unfall zermanscht, bei der Tour 2013 quetschte er sich die Lunge. Doch Tony Martin kämpft weiter. Bei der Straßenrad-WM in Florenz ist der Zeitfahrer die größte deutsche Medaillenhoffnung.

Von Johannes Knuth

Tony Martin wurde noch gefragt, wie er mit dem Druck umgehe, vor dem Einzelzeitfahren am Mittwoch bei der Straßenrad-Weltmeisterschaft. Die Frage nach dem Druck ist eine wichtige im Sport, der ehemalige Fußballtorwart Oliver hat die Thematik zu seinem Lebensthema ernannt: Kahn war lange beseelt vom Druck ("Er hat Kräfte freigesetzt"), dann betäubt ("Ich spüre den Druck vor lauter Druck nicht mehr"), am Ende geläutert ("Irgendwann ist das Rad überdreht").

Tony Martin hat über Druck gesprochen, er klang dabei fast wie ein junger Oliver Kahn: "Das pusht mich", sagte Martin, "das gibt mir den Grund, über mich hinauszuwachsen."

Es lastet derzeit eine Menge Druck auf dem Zeitfahrspezialisten Tony Martin, 28. Am Mittwoch ermitteln die besten Zeitfahrer ihren Weltmeister, auf 57,9 Kilometern zwischen Montecatini und Florenz. Martin war 2011 und 2012 Weltmeister, er ist wieder Favorit. Aber diesmal dürfte es schwerer werden als bei seinen beiden WM-Titeln zuvor. Die Weltspitze ist vollzählig vertreten, mit Fabian Cancellara (Schweiz) und Bradley Wiggins (Großbritannien), den beiden Olympiasiegern, dahinter lauern Taylor Phinney (USA), Richie Porte (Australien) und Bert Grabsch (Deutschland).

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"Von Platz eins bis fünf ist alles möglich", sagt Udo Sprenger, Vizepräsident des Bund Deutscher Radfahrer (BDR), wobei die Plätze vier bis fünf eigentlich keine Option sind für Martin. Der 28-Jährige ist der einzige deutsche Fahrer, dem in den Einzelwettbewerben eine Medaille zugetraut wird. Im Straßenrennen sind die Deutschen Außenseiter. Eine Medaille wäre wichtig für Martin, klar. Mindestens genauso wichtig wäre die Medaille aber für den deutschen Radsport.

Martin sagt, es gehe ihm gut. Das war nicht immer so. Er hat eine immense Leidensgeschichte hinter sich: In der vergangenen Saison nahm ihm eine Autofahrerin im Training die Vorfahrt, Martin flog durch die Scheibe, sein halbes Gesicht war zermatscht, Jochbein- und Kieferbruch. Während des Prologs bei der Tour de France 2012 steuerte Martin auf den Tagessieg zu, dann platzte sein Reifen. Einen Tag später stürzte er, brach sich das Kahnbein, er fuhr weiter, obwohl er sich in den Bergen kaum aus dem Sattel erheben konnte.

Martin stürzte im Training, kurz bevor er in London olympisches Silber gewann, er stürzte auch im Juni 2013, während der ersten Etappe der Tour, die Lunge war gequetscht, der Körper aufgeschürft, "Tapete ab", sagen die Radfahrer. Martin, der Bruchpilot, schrieben die Medien. Wie er das alles wegsteckt? "Ich ertrage schon einiges", sagt Martin.

Martin findet selbst, er sei kein Bruchpilot. Unfälle passieren nun mal, bei tausenden Kilometern im Training und Wettkampf. Tatsächlich ähnelt der 28-Jähige eher einem Schmerzensmann. "Beim Zeitfahren gibt es keinen Fahrer vor oder hinter dir, der dich animiert", sagt Martin, "du musst immer in der Lage sein, dich selbst zu motivieren, die Schmerzen zu ertragen." Ans Aufgeben habe er schon mal gedacht, aber da gibt es ja noch seine Betreuer, im Mannschaftswagen und im Massageraum. Martin sagt: "Ich kann gar nicht anders, als weiterzumachen."

Und wie. Martin kennt den WM-Kurs, am Sonntag gewann er mit Omega-Quickstep das Mannschaftszeitfahren (bei der WM treten dort seit 2012 die Profiteams an). Sylvain Chavanel, Martins Teamkollege bei Quickstep, sagte nach dem Rennen: "Er hat die ganze Mannschaft auf eine höhere Ebene gehievt." Es scheint, als finde Martin rechtzeitig zur WM zu seiner besten Form.

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Beim BDR sind die Hoffnungen in Tony Martin groß. Der Verband braucht solche Typen: Erfolgreiche Fahrer, die sich gleichzeitig gegen Doping positionieren. Er könne sich nicht vorstellen, in einer Mannschaft mit Alberto Contador zu fahren, dem skandalumtosten Spanier, richtete Martin bereits 2011 aus.

Im Juni forderte er, Doper lebenslang zu sperren - zur Abschreckung, und um das Vertrauen der Fans zurückzugewinnen. Es sei diese Haltung von Martin und anderen jungen deutschen Fahrer wie John Degenkolb und Marcel Kittel, sagt BRD-Vize Udo Sprenger, die allmählich honoriert werde: "Weil es glaubwürdig ist, was sie sagen."

Nach der WM will sich Martin noch einmal neu ausrichten. In Richtung Gesamtwertung bei den großen Rundfahrten, er wird dafür ein paar Kilo abspecken müssen, damit ihm die flinken Kletterer am Berg nicht davonfahren. Das alles wird ziemlich strapaziös werden. Aber Tony Martin wird die Schmerzen schon aushalten.

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