Viereinhalb Stunden hat Tony Martin gewartet, jetzt nähert sich endlich Christopher Froome dem Ziel. Martin ist ja schon mittags an der Reihe gewesen beim Einzelzeitfahren zum Mont Saint-Michel, diesem vom Atlantik umspülten Eiland aus Granit, von dem jetzt mal wieder einzigartige Bilder um die Welt gehen. Nur Martin schaut entgeistert auf den Bildschirm vor seinem heißen Stuhl, auf dem er nun seit einer Weile sitzt. "Wie ein Krimi", sagt er benommen, am Ende kämpft er mit den Tränen, das gibt er zu. "Ich hab's gerade noch unterdrückt."
Aber dieser Krimi, dieses kleine Drama des Tony Martin, es ist dann doch versöhnlich zu Ende gegangen aus Sicht des deutschen Zeitfahrweltmeisters. Dass er es überhaupt bis hierhin schaffen würde, ist ja doch eine Zeitlang unwahrscheinlich gewesen nach seinem fürchterlichen Sturz auf der ersten Etappe. Tiefe Fleischwunde im Ellenbogen, "die Tapete ab" an fast allen Körperteilen, wie die Radler sagen, leichte Lungenquetschungen - wie im Vorjahr war Martin ein bedauernswerter Patient und kein Siegkandidat beim größten Radrennen der Welt. Aber Martin biss sich durch, es sei ja nichts gebrochen, erklärte er, und dann war noch dieses pittoreske Panorama, der Berg im Meer: Er war sein Ziel in dieser Saison.
Seine Bestzeit von 36:29 Minuten - macht bei 33 km ein Stundenmittel von 53,4 - hält den ganzen Tag, bis der Mann in Gelb unterwegs ist - Froome. Bei der ersten Zwischenzeit, nach 9,5 km, lag der Brite eine Sekunde vorn - beim zweiten Check nach Kilometer 22 exakt 2,27 Sekunden. Martin sah nun aus, als bekäme er auf dem Bildschirm noch mal seinen Sturz von Korsika vorgeführt, und zwar in der Endlosschleife. Doch am Ende, im kernigen Gegenwind der Bretagne, verliert Froome Zeit, "ich habe auf die Fahnen geschaut, bei ihm kam der Wind von der Seite", erzählt Martin -"da dachte ich, er hat's eher leichter." Aber dann sieht er Froome reinkommen, Martins Zeit ist bereits vorüber, "ich hab's gar nicht glauben können": Tony Martin, der sich mittags bis zum Letzten verausgabt, sich im Schritt eine Stelle blutig gekurbelt hatte, liegt zwölf Sekunden vorn: Etappensieg, alles ist wieder gut.
Es kommt noch ein Zeitfahren, die 17. Etappe in den Hochalpen. Aber dort könne er nicht gewinnen, sagt Martin, "da könnte ich auch sagen, ich gewinnen in Alpe d'Huez - das ist schon sehr schwer". Sein nächstes Ziel: die WM-Titelverteidigung im September. Die Königsetappe der Tour holt sich wohl Froome, wegen der Zeitfahrschwäche der anderen liegt er nun noch klarer vor der sich knubbelnden Konkurrenz, die weiter Alejandro Valverde anführt.
Nach Martins Energieleistung liegen die Deutschen nun klar vorn in der Nationenwertung der Tageserfolge. Mit den beiden Sprintsiegen von Marcel Kittel und einem von André Greipel gerät die Rundfahrt, mal abgesehen von Froomes Dominanz, zur Tour d'Allemagne. Die stolzen Franzosen etwa warten immer noch auf einen Gewinner und überhöhen notgedrungen die sinnlosen Attacken von Thomas Voeckler oder das Bergtrikot eines Pierre Roland; der liegt aber schon aussichtslos zurück im Kampf um den angestrebten Top-10-Rang - und schaut zu alledem grotesk aus in der Montur mit dem rotgepunkteten Trikot.
Einen smarten Sprinter wie Kittel haben die Franzosen nicht, und auch ein Schmerzensmeister wie Martin, ein Greipel oder ein Allrounder wie der fünfmalige Vuelta-Etappensieger John Degenkolb ist nicht in Sicht. Die deutschen Profis wiederum genießen zwar den Enthusiasmus der Massen an der Strecke, anderseits würden sie sich auch über eine intensivere Anteilnahme der Landsleute freuen. Wie diese Erfolge jetzt daheim aufgenommen würden, wo man ja wohl immer noch indigniert sei wegen des jahrelangen Betrugs bei den Teams Telekom und Gerolsteiner, solche Fragen hat auch Kittels Kollege Johannes Fröhlinger am Ruhetag wieder vernommen von internationalen Reportern. "Die wollen wissen, wie es da jetzt bei uns abgeht", erzählt der Profi aus der Eifel. Oder vielmehr: Was eben nicht abgeht.
Sie werden das ja schon bei der Heimkehr merken, wenn ein Tour-Ass wie Kittel, das für den niederländischen Argos-Rennstall fährt, oder Belgien-Profi Greipel (Lotto) zwar bei den Kriterien in Benelux gefragt sein werden. In Deutschland dagegen gäbe es neben dem Bochumer Rennen in der Woche nach der Tour nur noch das Hamburger ProTour-Rennen (25.8.) als Startoption; viel mehr Bühnen für Heimspiele bietet der deutsche Markt nicht. Von Rundfahrten ganz zu schweigen, die Schleife durch Niedersachsen, die Regio- und die Deutschland-Tour sind im Strudel der Dopingaffären mit untergangen, weil sich die Geldgeber abwendeten. Sponsoren fehlen vor allem auch für jenes Vehikel, das die hiesige Profiszene vermutlich beleben würde: eine deutsche ProTour-Mannschaft.
Vor einem Jahr war mal ein Hersteller von Pflegemitteln sehr weit, mit einem jetzt zurückgetreten Profi ein neues Team aufzuziehen. Dann kulminierte die Affäre Lance Armstrong. "Mal sehen, ob sich jetzt jemand findet", sagt Marcel Kittel. "Eine deutsche Mannschaft würde man sich schon wünschen", sagt Tony Martin. Und Johannes Fröhlinger ergänzt: "Das wäre jedenfalls der erste Schritt, damit auch wieder mehr Rennen stattfinden würden." Das Team NetApp ist als höchstrangigste deutsche Mannschaft in der zweitklassigen Continental-Liga notiert. Prominentester Name ist dort der Sportchef, Jens Heppner. Er ist früher mit Jan Ullrich auf dem Zimmer und Team Telekoms Kassenwart gewesen, will aber von dem Betrugssystem nie etwas mitbekommen haben.
Das könnte unter Umständen interessant werden, wenn am 24. Juli eine französische Senatskommission die Nachtests der Epo-Tour von 1998 bekannt gibt. Heppner gewann damals die dritte Etappe.
"Das gehört zu unserer Vergangenheit, das müssen wir akzeptieren", hat Kittel nach seinem Sieg in Saint-Malo wieder zu den Fragen der ausländischen Reporter über das trübe Kapitel des deutschen Radsports und dessen Wirkungen geäußert. Einstweilen freut er sich aber mehr über seinen Aufstieg in die Premiumliga des Sprints - und die Zuneigung der holländischen Öffentlichkeit. "Die deutsch-holländische Freundschaft wird durch meine Siege gefestigt", sagt er und lacht. Er und sein Team sollen 2014 sogar im Kino-Programm des Nachbarlands zu sehen sein, es wird gerade eine Dokumentation gedreht. Vier Deutsche sind bei Argos dabei, "die Holländer haben uns adoptiert", sagt Fröhlinger. Notgedrungen, denn einen Kittel oder einen Martin haben auch sie nicht.