Süddeutsche Zeitung

Tony Martin holt WM-Titel im Zeitfahren:Gold für den Anti-Contador

Tony Martin hat bei der Tour de France einen herben Rückschlag hingenommen, jetzt ist der 26-Jährige Weltmeister im Zeitfahren. Dabei gilt er als Fahrer mit Anti-Doping-Grundsätzen und hatte einige Probleme, im zwielichtigen Radsport ein neues Team zu finden.

Andreas Burkert

Als Tony Martin bei Halbzeit des Rennens erstmals durch die Innenstadt von Kopenhagen raste, hatte er schon diesen gierigen Blick. Sicher, er kannte die Zwischenzeiten, sie sahen ihn von Beginn an vorn im Einzelzeitfahren der Straßenrad-WM. Aber daran lag es nicht.

David Millar war es, der ihn motivierte mit seiner bloßen Erscheinung. Dabei war der Schotte, einer der Spezialisten und am Ende immerhin Siebter, 90 Sekunden vor ihm gestartet. Aber wie alle anderen ist auch er chancenlos gewesen gegen den Deutschen, das wusste der Brite schon zu Beginn der zweiten Schleife über 23,2 Kilometer rund um die dänische Hauptstadt.

Denn Tony Martin überholte ihn, ach was, er flog geradezu vorbei.

Martin ist nun erstmals Weltmeister, er hat dabei eine Demonstration abgeliefert. Stundenmittel: 51,8 km/h. "Das ist der größte Sieg meines Lebens. Es war ein perfekter Tag, ich hatte perfekte Beine", sagte er später in bester Radsportprosa. Doch die Erwartungen waren eben groß, vor allem seine eigenen: Zweiter, hatte er gesagt, das wäre eine Enttäuschung. Aber der 26-Jährige enttäuschte sich nicht, auch der bisherige Regent, Fabian Cancellara, musste das anerkennen: Der inzwischen 30-jährige Olympiasieger, schon viermal Weltmeister in dieser Disziplin, verlor auf den Rouleur aus Eschborn nach 46,4 Kilometern 1:20 Minuten. Das sind Welten.

Durch einen späten Fahrfehler verlor der Berner Titelverteidiger sogar noch Bronze an den Briten Bradley Wiggins (1:15 Minuten); der Wittenberger Routinier Bert Grabsch (1:31) fuhr mit 36 Jahren als Vierter noch einmal sehr nah ans Podium heran.

Für Martin ist es neben seinem ersten Tour-Etappensieg vom Juli der bisher größte Erfolg. Der Polizeimeister, aufgewachsen in Hessen, ausgebildet in Thüringen und inzwischen ans Schweizer Ufer des Bodensees übergesiedelt, gilt nun auch als auch Favorit auf Gold in London 2012 und für die dauerhafte Ablösung Cancellaras. "Tony ist ja noch im ersten Drittel seiner Karriere, da kann so ein WM-Titel schon anschieben", glaubt Rolf Aldag, sein Teamchef bei Highroad.

Zumal sich Martin in der Olympia-Saison auf seine Spezialdisziplin konzentrieren will - die Tour de France 2011 hat ihn von Ambitionen im Gesamtklassement für Erste abgebracht.

In Frankreich hatte er die Top Ten anvisiert, doch wie in den Jahren zuvor musste er die Besten früh im Hochgebirge ziehen lassen. Zum Abschluss in Grenoble gewann er aber erstmals das Duell mit dem Sekundenzeiger. Diese Gefühle wolle er nicht mehr missen, sagte Martin, als er ausgepumpt und selig auf dem Asphalt lag. Denn große Rennen kann Martin trotzdem gewinnen, im Frühjahr triumphierte er bei Paris - Nizza; Kopenhagen war nun sein siebter Zeitfahr-Sieg, auch bei der Vuelta gewann er klar.

Jemand wie Martin war also umworben, als bekannt wurde, dass im letzten Moment doch noch ein neuer Sponsor absagte und sich somit sein aktuelles Highroad-Team auflöst. Dass es nun abgewickelt wird, ist für Martin ein Schlag. Die Ausrichtung des T-Mobile-Nachfolgers mit innovativer Technik und glaubwürdigerer Haltung schätzte der zurückhaltende Mann.

Doch nun musste er sich umorientieren, was angesichts der befremdlichen Rückentwicklungen im Radsport kein einfaches Unterfangen war für ein Talent mit Grundsätzen. Und er wird das niemals öffentlich sagen, Martin wagt sich in der Dopingproblematik sowieso schon recht weit vor. Aber klar ist, dass er sich zuletzt wohl für das kleinste Übel entschied: für Omega-QuickStep, Belgien.

Denn die Alternativen hießen Team Saxo von Bjarne Riis, der zwielichtige Däne hatte aber keine Chance: Er könne sich "nicht vorstellen, in einer Mannschaft mit Alberto Contador zu fahren", ließ Martin wissen; der Abschluss von Contadors Dopingverfahren steht zwar noch aus, doch die Radler-Vita des Spaniers spricht für sich.

Auch die kasachische Skandalnudel Alexander Winokurow, künftig der starke Mann bei Astana, wedelte mit vielen Geldscheinen. Moralische Bedenken gab es bei Skil nicht, doch das Paket der Holländer bedeutete wegen der Ausrüstung und dem vagen Startrecht für die Tour keine echte Option.

Auch der Name des Fusionsteams Omega-Quick Step löste Unbehagen aus, als Martin nun für drei Jahre unterschrieb. QuickStep stand früher unter Teamdoping-Verdacht, Affären von Profis wie Tom Boonen und schlecht beleumundetes Personal festigten das Image. Doch nun ist auch dort von Umorientierung die Rede, nachdem zwei Investoren die Mehrheit an der Betreiberfirma des Strippenziehers Patrick Lefévère übernahmen - darunter der tschechische "Kohlebaron" Zdenek Bakala, laut Forbes mit zwei Milliarden Dollar Vermögen unter den 600 reichsten Männern des Planeten.

Lefévères künftige Rolle ist jedoch noch unklar, und Martin wird sich über die jüngste Verpflichtung so seine Gedanken machen - des langjährigen Armstrong-Kumpanen Levi Leipheimer. "Ich glaube trotzdem, dass dort ein Interesse besteht, Strukturen zu verändern und Dinge anders zu machen", sagt Rolf Aldag.

Aldag, ein Vertrauter Martins wie dessen junger Trainer Sebastian Weber, könnte ihm demnächst folgen. Der Westfale überlegt noch, ob er im Metier bleibt, am 18. Oktober eröffnet er daheim in Delecke mit seiner Frau ein Fitnesscenter. Aber es gibt Gespräche mit Martins neuer Heimat, ein Teil des Highroad-Personals, darunter der mutmaßlich integre Däne Brian Holm, wurden verpflichtet; auch Rennchef Jan Schaffrath ist Kandidat.

Martin könne in vertrauter Umgebung seinen Weg fortsetzen, glaubt Aldag, sie nehme auch Vorbehalte. "Eine Mannschaft in der Mannschaft darf es nicht sein", findet er, "aber es gibt Tony sicher Ruhe."

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Quelle:
SZ vom 22.09.2011/ebc
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