Olympia:Weiterbauen für 2021

Olympia: Eine Baustelle vor dem Tokioter New National Stadium.

Eine Baustelle vor dem Tokioter New National Stadium.

(Foto: AFP)

In Tokio begegnen sie der Olympia-Verschiebung mit der Haltung einer Nation, die Krisen und Katastrophen gewohnt ist. Erste Entscheidungen fürs nächste Jahr fallen schon - doch viele wichtige Fragen sind noch offen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Dieses neue Ungeheuer von Tatsumi hat Masakazu Takayanagi nie besonders gestört. Er ist im Tokioter Spezialbezirk Koto aufgewachsen, nicht weit entfernt von dem Ort also, an dem jetzt besagtes Ungeheuer ruht, das klotzige Schwimmstadion der verlegten Olympischen Spiele. Als er vor Jahren hörte, dass die riesige Arena in den Mori-Park kommt, in die unmittelbare Nähe des auch nicht kleinen Internationalen Schwimmzentrums, war er überrascht. Zugegeben, auch ein bisschen besorgt, weil er nicht wusste, was die Veränderung für das Logistik-Unternehmen bedeuten würde, für das er im nahen Hafen arbeitet. Aber eigentlich fand er die Veränderung gut. Zumindest fand er sie nicht schlimm.

Masakazu Takayanagi steht am Rande eines Fußballfeldes. Sein Sohn spielt. Der Wind wirbelt den Sand des Platzes auf. Im Hintergrund ragt nutzlos das Ungeheuer auf. Takayanagis Augen lachen über dem Mundschutz. Er weiß nicht, ob die Partie auf dem Sandplatz gegen die Coronavirus-Empfehlungen der Präfektur verstößt, deshalb sagt er lieber nicht den Namen des Vereins, für den sein Sohn spielt. Aber seine Meinung über das Ungeheuer kann jeder wissen. Wegen Olympia wird das Schwimmzentrum für Normalbürger gesperrt, weil dort Wasserball stattfindet, das findet er einen Nachteil. Sonst? Kein Problem damit. Und die Verlegung auf spätestens Sommer 2021? Findet er gut. Genauer gesagt nicht schlimm. Er kann ja ohnehin nichts machen. "Ich lebe weiter."

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Shoganai, kann man nichts machen, ist im Japanischen nicht nur ein Ausdruck der Resignation. Sondern das Leitwort einer Haltung, mit der die Menschen des Inselstaates in den vergangenen 75 Jahren Kriegszerstörung, Wirtschaftskrisen und die Folgen diverser Naturkatastrophen angenommen haben. Nicht hadern, anpacken, weiterleben, das Beste aus der Situation machen - das ist der Geist, der dahintersteckt, und er ist sicher deshalb so ausgeprägt in Japan, weil das Land an einer Stelle der Erde mit hohem Erdbebenrisiko liegt. Im Wiederaufbauen eingestürzter Stadtlandschaften sind die Japaner Experten. Und jetzt kommt die nächste Herausforderung, aus der man das Beste machen muss: Weiterbauen, was erst viel später als gedacht gebraucht wird.

Olympische Spiele sind noch nie verlegt worden. Sie sind auch nicht darauf ausgerichtet, verlegt zu werden. Im Gegenteil. Sie und die Paralympics, ihre wachsende Partnerveranstaltung für Sportler mit Behinderung, sind über die Jahrzehnte hinweg immer klobiger geworden, mit mehr Sportarten, mehr Gefolge, mehr Geld. Drumherum ist eine Sportereigniswelt gewachsen, die den Wettkampfkalender so ausgereizt hat, dass aus der einen Verlegung im Grunde viele weitere Verlegungen folgen müssten. Olympia umfasst mehr als 11 000 Athleten, 90 000 Ehrenamtliche, Hunderttausende Funktionäre und Zuschauer aus praktisch allen Ländern der Erde. Eine ganze kleine Welt muss innerhalb Japans neu verpackt und an eine andere Stelle gedrückt werden.

Binnen dreier Wochen soll der genaue Termin der Spiele stehen.

Immerhin, Tokio wirkt gefasst am Ende der Woche, die die Verlegung brachte. Der erzkonservative Premierminister Shinzo Abe hat seiner Enttäuschung längst Ausdruck verliehen. Die verlegten Sommerspiele seien nun das "Testament für die Niederlage des Menschen durch das neue Virus". Jetzt ist die hohe Politik wieder mehr mit dem Coronavirus beschäftigt. Gouverneurin Yuriko Koike hat ihre Bürger gebeten, am Wochenende nicht auf die Straße zu gehen, weil durch Ankömmlinge aus dem Ausland die Zahl der Covid-19-Fälle rasant ansteige. "Warum nur am Wochenende?", echot es aus den Sozialen Netzwerken. Gleichzeitig gibt es Spekulationen, dass ein dreiwöchiger Lockdown kommen könnte.

Immerhin, in den Sportstätten wird so weitergearbeitet, als würde es doch pünktlich am 24. Juli losgehen. Zumindest wirkt es am Freitag so. Im Urban Sportspark von Ariake sind neben den Hügeln der BMX-Strecke Sitze montiert, die am Mittwoch noch nicht da waren. Baufahrzeuge sind in Bewegung. Männer schrauben an Tribünen herum. Was sollen sie sonst tun? Sofort alles fallen lassen und aufhören?

Binnen dreier Wochen soll der genaue Termin der Spiele stehen. Erste Entscheidungen fallen schon: Laut Meldungen vom Freitag hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit den 32 beteiligten Sommersport-Weltverbänden vereinbart, dass für 2020 qualifizierte Athleten auch für 2021 qualifiziert bleiben; damit wären 57 Prozent der freien Startplätze für die neu terminierte Olympia-Auflage besetzt. Und es gibt Signale der japanischen Sponsoren, dass sie helfen werden, die Milliarden aufzubringen, die für die Verlegung gebraucht werden; dabei haben Japans Unternehmen schon die einsame Rekordsumme von 3,3 Milliarden US-Dollar zum Tokioter Olympia-Budget beigetragen.

Es gibt noch so viele Fragen mehr

Aber es gibt noch so viele Fragen mehr, kleine und große: Was wird aus den verkauften Tickets? Wo bleibt die olympische Flamme in den Monaten, in denen sie nicht gebraucht wird? Kann das Organisationskomitee seine 3500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für weitere zwölf Monate halten, von denen viele nur für eine bestimmte Zeit von Spiele-Sponsoren entsandt waren? Was wird aus den Sportstätten? Vor allem aus den provisorischen, die eigentlich nur ein paar Monate stehen bleiben sollten und nun wohl ein Jahr lang ihrem Einsatz entgegendämmern werden? Was wird aus dem Olympischen Dorf?

Antworten gibt es fast noch keine. Kayo Yamaguchi vom Medienteam des Organisationskomitees schreibt auf Anfrage: "Wir schauen über jeden einzelnen Aspekt der Verlegung und werden Informationen so bald wie möglich vermelden." Während Leute wie IOC-Präsident Thomas Bach oder Premier Shinzo Abe ihre salbungsvollen Reden halten, arbeitet man im Organisationskomitee unter Hochdruck an den neuen Plänen.

Die Tokioter Spiele haben keinen klassischen Olympiapark. Viele Sportstätten sind nicht weit voneinander entfernt, aber stehen doch seltsam für sich in der Stadtlandschaft. Zum Beispiel in Ariake, einem Neubaugebiet am Wasser, das an vielen Ecken so besenrein und steril aussieht, als wäre Leben dort verboten. Zwischen Hochhäusern und Autobahnbrücken befindet sich hier gleich beim Bahnhof der besagte Urban Sportspark für Skateboarden und BMX. Auf der anderen Seite der Straße ragt die geschwungene Halle für die Turnwettbewerbe auf, kurz dahinter der helle Bau für das Volleyballturnier. Straßenreiniger fegen Blätter vom Asphalt. Ab und zu kommen Fahrradfahrer vorbei. Ein weißer Bauzaun umgibt die Hallen, unbeschmiert, weil jeder die Warnschilder beachtet: "Graffiti ist ein Verbrechen." Und die BMX-Strecke ist teilweise schon mit weißen Linien markiert. Olympia könnte kommen.

Das Olympische Dorf ist auch nicht weit entfernt. Hinter dem neuen Fischmarkt von Toyosu führt eine breite Brücke über das Hafenbecken zur Einfahrt in eine elegante Hochhaussiedlung mit jungen Bäumen und Meerpromenade. Nach den Spielen soll das Dorf ein exklusives Wohnareal werden mit 4000 Luxusapartments. Hunderte davon sollen schon verkauft sein. Die Käufer dürften nicht begeistert sein darüber, dass ihre teure Behausung irgendwann, auf jeden Fall aber erst sehr viel später als geplant frei wird.

Die Gouverneurin spekuliert darauf, dass Tokio die Marathon-Wettbewerbe zurückbekommt

Der neue Termin. Daran hängt jetzt viel. Er müsse nicht im Sommer liegen, heißt es, das Frühjahr wäre interessant. Tokios Gouverneurin Yuriko Koike spekuliert darauf, dass Tokio die Marathon-Wettbewerbe zurückbekommt, die das IOC im vergangenen Jahr in einer schnellen Aktion nach Sapporo verlegt hatte, um sie der schwülen Sommerhitze in der Hauptstadt zu entziehen. Yuriko Koike fand das damals gar nicht lustig und sagt jetzt einfach mal: "Bewohner von Tokio wünschen, dass das passiert." Und: "Tokio ist die bessere Wahl."

Alle sehen halt zu, dass sie das Beste aus der Lage macht. Am Ende sollen die Tokio-Spiele dann als das Symbol dafür dastehen, dass der Mensch doch einen längeren Atem hat als das Coronavirus. Und was sagt Masakazu Takayanagi, der Tokioter aus der Nachbarschaft der Schwimmarena? Der sagt, doch, doch, er interessiere sich für die Spiele. Und scheint sie trotzdem nicht besonders wichtig zu finden für sein normales japanisches Leben.

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