Annett Kaufmann ist zurzeit die populärste deutsche Tischtennisspielerin. Die 18-Jährige ist Jugendweltmeisterin, zugleich Deutschlands Spielerin des Jahres und Nachwuchsspielerin des Jahres, Sportlerin des Jahres ihrer Heimatstadt Bietigheim-Bissingen und Team-D-Award-Gewinnerin des Deutschen Olympischen Sportbunds. Sie war Gast im ZDF-„Sportstudio“ und in anderen Fernsehsendungen. Sie hat 52 500 Follower bei Instagram und bekommt haufenweise Fanpost. Sie ist, wenn man so will, die erste massenwirksame Influencerin des deutschen Tischtennis.
In der Weltrangliste spiegelt sich das alles bislang allerdings noch nicht wider. Annett Kaufmann steht momentan auf Platz 111. Damit ist sie in diesem Ranking die siebtbeste deutsche Spielerin.
Die in Wolfsburg geborene Tochter kasachischer Eltern (Vater Andrej war Eishockeyprofi, Mutter Anna Skirennläuferin) ist aber beileibe kein sportlich unbedeutendes Sternchen. Sie gilt als eines der größten deutschen Tischtennistalente. Bei Olympia im vergangenen Sommer in Paris war sie als Ersatzspielerin kurzfristig ins deutsche Team gerückt und verzückte mit leidenschaftlichem Spiel die Tischtennisnation. Sie schrie, ballte die Becker-Faust und reckte den Vettel-Zeigefinger. Mit spektakulären Punkten führte sie die Mannschaft ins Halbfinale. Im Spiel um Platz drei gegen Südkorea verpasste Deutschland Bronze nur unglücklich. Kaufmann wurde über Nacht zum Star.

Tischtennis:„Schutz vor Ausbeutung“
Tischtennisprofis gründen eine Spielervereinigung, um ihre Rechte künftig besser vertreten und sich im Konflikt mit dem mächtigen Turnierveranstalter WTT behaupten zu können.
Kurz vor Olympia war sie in Erfurt deutsche Einzelmeisterin geworden. Nach Olympia wurde sie im schwedischen Helsingborg U-19-Jugendweltmeisterin, im Endspiel besiegte sie die Chinesin Zong Geman. Nie zuvor war eine nicht asiatische Spielerin Jugendweltmeisterin geworden, 18-mal hatte eine Chinesin gewonnen, zweimal eine Japanerin.
Kaufmanns extrovertiertes Spiel, ihre Ausstrahlung und ihr für eine 18-Jährige erstaunliches Selbstbewusstsein haben eine magische Wirkung entfaltet. „Nach Olympia habe ich zwei Monate lang jeden Tag E-Mails bekommen“, erzählt sie. Manchmal schreibt sie stundenlang Autogramme. Bei der Organisation der Fanpost hilft ihr die Mutter. Einen Manager hat Kaufmann (noch) nicht.
Was ihr die Menschen so schreiben? „Das meiste sind Autogrammwünsche, aber auch Einladungen zu Vereinsjubiläen“, sagt sie, „manche Eltern schreiben mir, dass ich für ihre Kinder eine Inspiration bin, viele schreiben mir, dass sie mögen, wie ich spiele.“ Sie öffnet alle Briefe selbst, liest alles. „Ich finde es supernett, dass sich Menschen die Zeit nehmen, mir etwas Schönes zu schreiben.“
Dabei ist Kaufmann gar nicht Everybody’s Darling. In einem Playoff-Spiel mit ihrem bayerischen Bundesligaklub SV DJK Kolbermoor kürzlich beim TTC Eastside Berlin hat sie sich mit Berlins Manager Andreas Hain, 58, während eines Matches ein Wortgefecht geliefert. Der ehemalige Präsident des Deutschen Tischtennis-Bunds warf ihr Spielverzögerung und Arroganz vor. Sie blaffte trocken: „Ruhe auf den billigen Plätzen!“ Beide bekamen die gelbe Karte und beruhigten sich wieder.
Schon in der zweiten Runde wird sie auf die Weltranglistendritte aus China treffen
Am Samstag beginnt nun in Doha die Individual-Weltmeisterschaft. Kaufmann spielt in allen drei Wettbewerben mit: im Einzel, mit Shan Xiaona im Doppel und mit Patrick Franziska im Mixed. Eine Medaille zu gewinnen, wird ohnehin schwierig, aber jetzt ist Kaufmann elf Tage vor der WM im Training auch noch umgeknickt. Es war nicht so schlimm, sie wird spielen können. Im Einzel trifft sie in der ersten Runde auf die Hongkongerin Ng Wing Lam. In der zweiten Runde würde die chinesische Weltranglistendritte Chen Xingtong warten – ein nahezu unmögliches Unterfangen.
Wegen ihrer niedrigen Weltranglistenplatzierung trifft Kaufmann bei Turnieren früh auf Topspielerinnen. Das ist eine Krux. „Man darf sich deswegen nicht kirre machen“, sagt sie tapfer und arbeitet im Training unbeirrt an Kraft und Ausdauer. Vor einem Jahr hat sie das Abitur gemacht. „Bis dahin war Tischtennis eher ein Hobby“, sagt sie. Erst seit einem Jahr ist sie sozusagen Vollprofi. Sie trainiert mit den Nationalspielerinnen im Tischtennis-Leistungszentrum in Düsseldorf.
Der Weg in die Weltspitze wird hart. Dort zu bestehen, wird noch härter. Gegen diese sportliche Herausforderung ist der Aufbau von Internetpräsenz geradezu easy. Kaufmann gibt in der Öffentlichkeit viel von sich preis: dass sie gerne in der RTL-Show „Let’s Dance“ mittanzen würde, dass sie auch als Leistungssportlerin gerne mal ein Nutellabrot frühstückt, dass sie, falls aus der Tischtenniskarriere nichts wird, gerne Kriminalkommissarin oder Moderatorin werden würde. In einem Podcast sagte sie: „Mir ist nichts peinlich, ich mache viel Blödsinn, ich verstelle mich nicht.“
Sie trainiert hart, der Sport soll im Vordergrund bleiben. „Als Influencerin fühle ich mich nicht“, versichert sie
Mit ihrer extrovertierten Art fällt Kaufmann im Kreise einer ansonsten eher ruhigen Tischtennisfamilie aus dem Rahmen. Der geradezu introvertierte Branchenheld Timo Boll, der seine Karriere im Alter von 44 Jahren jetzt beendet, hat in jungen Jahren in Stefan Raabs Blödelshow „TV Total“ mal versuchen müssen, mit einem Mund voller Tischtennisbälle ein Interview zu geben. Danach hat er im Fernsehen nie wieder irgendeinen Quatsch mitgemacht.
Tischtennismenschen werden eher selten in TV-Shows eingeladen. Kaufmann aber war mit 18 schon im „Sportstudio“ und ist dort sehr souverän aufgetreten. Der Popularität des Tischtennis könnte ihre einnehmende Art helfen, gewitzte Journalisten nennen die eloquente Tischtennisspielerin gern doppeldeutig: „schlagfertig“.
Doch die Bemühungen um sportlichen Erfolg will Kaufmann keineswegs vernachlässigen. Sie trainiert hart. „Als Influencerin fühle ich mich nicht“, betont sie. „Zuletzt habe ich Nachrichten bekommen, ob ich noch lebe, weil ich so lange nichts gepostet habe“, sagt sie lachend.
Jeder Sport, auch Tischtennis, findet Kaufmann, benötige Repräsentationsfiguren: „Beim Fußball denkt man zuerst an Ronaldo und Messi, beim Tischtennis fällt vielen zuerst Timo Boll ein.“ Die WM in Doha ist die erste nach Bolls internationalem Karriereende. Übernimmt die 18-Jährige jetzt seine Rolle als deutsche Tischtennis-Botschafterin?
Kaufmann will zuallererst erfolgreich Tischtennis spielen. Zugleich möchte sie für ihre Fans aber immer nahbar bleiben: „Wir Sportler sind ganz normale Menschen“, sagt sie: „Wir kommen nicht vom Mars.“