Neu-Ulm in der Tischtennis-Bundesliga:Sorgen eines Stellvertreters

Neu-Ulm in der Tischtennis-Bundesliga: Auf der Suche nach einem neuen Verein: Vladimir Sidorenko.

Auf der Suche nach einem neuen Verein: Vladimir Sidorenko.

(Foto: Hafner/Nordphoto/Imago)

Für drei junge russische Profis ist Dmitrij Mazunov beim TTC Neu-Ulm weit mehr als nur ein Trainer. Seit ihr Verein den Rückzug aus der Tischtennis-Bundesliga angekündigt hat, steht die Gruppe allerdings vor einer ungewissen Zukunft.

Von Andreas Liebmann

Die Sache ist eigentlich längst verjährt, aber das Bild ist doch zu kurios, um es nicht noch einmal hervorzuholen. Dmitrij Mazunov auf seiner ersten echten Trainerstation, damals in Katar, wie er in der Halle steht, wartet - und nach zwei Stunden frustriert in seine Wohnung zurückkehrt, weil mal wieder kein einziger seiner Tischtennis-Nationalspieler zum Training erschien. Vermutlich stand er auch damals mit hochrotem Kopf da und bearbeitete mit den Kiefern erbarmungslos einen Kaugummi, so wie man ihn heute oft als Coach hinter der Bande sieht.

Im ersten Jahr, erzählt Mazunov, seien die katarischen Spieler motiviert gewesen, im zweiten habe er bemerkt, dass sie nur vor dem alljährlichen Turnier gegen die anderen Golfstaaten fleißig waren. Für Mazunov, der in einem russischen Sportinternat zum Nationalspieler gedrillt wurde, muss das ein Kulturschock gewesen sein. Nach dem dritten Jahr war er froh, wieder heimzukommen.

Als Profitrainer hat der 51-Jährige seitdem eine beachtliche zweite Karriere hingelegt. Die TTF Ochsenhausen coachte er 2019 zum Double aus Meisterschaft und Pokal (zu dem er sie 15 Jahre zuvor auch als Spieler schon geführt hatte). Und mit dem TTC Neu-Ulm hat er zwar das Champions-League-Finale knapp verpasst, aber den deutschen Pokaltitel gewonnen. Für Mazunov hatte sich zuletzt sehr vieles gefügt - bis der TTC Neu-Ulm kürzlich verkündete, nächste Saison aus der Bundesliga auszusteigen.

Mazunovs Vertrag läuft weiter, Sidorenko und Co. sind nun auf der Suche nach neuen Vereinen. Die Zeit ist knapp

Streng genommen gibt es in Neu-Ulm ja zwei grundverschiedene TTCs, für die Mazunov zuständig ist: Das Hochglanz-Top-Ten-Ensemble um Dimitrij Ovtcharov, über das zuletzt so viel gestritten wurde und das Klubchef Florian Ebner nächste Saison nur noch auf die Jagd nach dem Champions-League-Titel schicken möchte. Und jene Trainingsgruppe, die Mazunov hier seit 2020 führt, dem zweiten Jahr des Vereinsbestehens: aktuell mit Vladimir "Vova" Sidorenko, Lev Katsman und Maksim Grebnev, drei jungen Russen Anfang 20, die seit Kriegsbeginn für internationale Turniere gesperrt sind, weshalb ihnen nichts blieb als zu üben und für ihren Klub den Bundesligaalltag zu bestreiten. Der fällt nun weg. Ihr Derby gegen Ochsenhausen zuletzt - nur etwa 40 Kilometer entfernt - ging 0:3 verloren. Drei TTBL-Spiele folgen noch. Und dann?

"Stand heute", erläutert Mazunov, bleibt er Neu-Ulms Trainer. Sein Vertrag gilt auch für nächste Saison. Sein junges Trio suche nun neue Klubs, am liebsten "in Deutschland oder Frankreich". Doch die Zeit ist knapp, viele Kader sind längst voll, und dass sie Russen sind, macht ihre Suche nicht leichter. Trainieren dürften sie weiterhin in Neu-Ulm, aber das hängt natürlich von den neuen Klubs ab. Und falls einer der drei weiter weg wechselt - in einem Fall sei auch die Rückkehr nach Russland denkbar - würde man womöglich die ganze Trainingsgruppe auflösen.

Neu-Ulm in der Tischtennis-Bundesliga: Will viel mehr als nur Vorhand und Rückhand vermitteln: Dmitrij Mazunov.

Will viel mehr als nur Vorhand und Rückhand vermitteln: Dmitrij Mazunov.

(Foto: Hafner/Nordphoto/Imago)

Für Mazunov sind all diese Entwicklungen schwierig. Seine Bedeutung für die wenigen Champions-League-Auftritte der Neu-Ulmer Stars wäre wohl überschaubar, möglicherweise meldet der TTC auch noch ein Zweitligateam. Für seine drei Jungprofis aber käme das nicht infrage, und für die trägt er eine ganz besondere Verantwortung. Alle drei kamen schon in jungen Jahren nach Deutschland und in seine Obhut. "Sie haben gesehen, dass in Russland für ihre Entwicklung nicht die besten Voraussetzungen sind. Lev mit seinem Trainer war der Erste, dann hat Vovas Vater bei mir angerufen, dann kam Maksim", erzählt Mazunov. "Die Jungs sind talentiert und motiviert, waren alle top im Jugendbereich, deshalb hab ich das mit Freude angenommen." Er hat sie fortan nicht nur sportlich aufgebaut: "Du musst von allem ein bisschen sein, mal streng wie ein Polizist, mal musst du Krankenschwester spielen, mal Vater", fasst Mazunov zusammen. Seine eigene Familie unterstützt ihn dabei, und Mazunov gibt viele Erfahrungen weiter, die er selbst sammelte, als er nach Deutschland kam. Mit Anfang 20, so alt, wie die drei heute sind.

Bei Mazunov fing alles damit an, dass sein älterer Bruder Andrej 1991 als Profi nach Deutschland ging, zum TSV Milbertshofen. Ein Jahr später unterschrieb Dmitrij in der Bundesliga, sein erstes von mehreren Ochsenhausen-Engagements. "Es sollte schon für mehr als ein oder zwei Jahre sein", erinnert er sich, "die Bundesliga war auch damals eine der stärksten Ligen Europas." Dass er auf Dauer hier leben würde, sei trotzdem nie der Plan gewesen. Ein Jahr später lernte er seine heutige Ehefrau kennen.

Mazunov versucht zwischen den Kulturen zu vermitteln - nicht erst seit diesem Krieg, der alles kompliziert gemacht hat

Als Spieler, vor allem im Doppel mit Bruder Andrej und mit Alexei Smirnow, sammelte er so viele Silber- und Bronzemedaillen, dass er daraus "einen Salat machen" könne, wie er später mal sagte. Nach dem Ende der Spielerkarriere hatte er eine ganze Reihe Jobs gleichzeitig, ehe es ihn nach Katar verschlug: Stützpunkttraining für Ochsenhausen, 3500 Kilometer weiter östlich, in Jekaterinburg, Spielertrainer. Ins Wüstenemirat ging er, weil er etwas Festes suchte nach all der Reiserei. Mazunov ist eigentlich ein bodenständiger, heimatverbundener Familienmensch. Als er heimkehrte aus Katar, hieß das: heim nach Oberschwaben. Zu seiner Frau, der Tochter und dem gemeinsamen Haus.

Der Krieg hat vieles schwieriger gemacht. Auch für seine "Jungs", die inzwischen zwar älter und selbständiger seien, aber ihre eigenen Familien nur selten zu Gesicht bekämen, ebenso wie Mazunov seine Eltern. Er will den jungen Profis viel mehr vermitteln als nur Aufschlag und Rückschlag, als eine Art Stellvertreter. Auch deshalb wusste er es zu schätzen, dass sie seit dieser Saison auch ein TTBL-Team bildeten und nicht nur eine Trainingsgruppe. "Irgendwann geht die Karriere vorbei, und es kann sein, dass sie nicht Olympiasieger werden oder Weltmeister", erklärt er. "Ich habe darüber auch mit den Eltern gesprochen: Ich möchte, dass sie gute Menschen bleiben, versuche ihnen viel zu erklären und für ihr Leben mitzugeben."

Dazu gehört auch, wie wichtig es sei, die deutsche Sprache zu lernen und in einem fremden Land auf Leute zuzugehen. Interesse an anderen zu zeigen. Dem Gegenüber in die Augen zu blicken. Dinge, die ihm schon sein alter Trainer Leo Amizic mitgab: "Wenn du nur allein im Zimmer sitzt, ist es schwierig für deine persönliche Entwicklung", habe ihm der gesagt - und Recht gehabt. Mazunov versucht zwischen den Kulturen zu vermitteln, nicht erst seit Beginn dieses Krieges, seitdem diese rein russische Gruppe von außen mit Argwohn betrachtet wird. Sidorenko etwa schaue oft grimmig. "Ich versuche den Leuten dann zu erklären: Er kommt aus Sibirien, es ist immer kalt dort. Es gibt nicht viel, das Leben ist hart. Die werden schon so geboren." Dabei spreche Sidorenko gut Deutsch inzwischen, er werde offener, und in der Bundesliga hat der 20-Jährige eine positive Bilanz (14:10), was nicht einfach ist. Überhaupt: Alle drei haben das Niveau für die TTBL, die stärkste Liga Europas, auch wenn sich in Katsmans Fall viele knappe Niederlagen im Einzel zu einer 3:16-Trauerbilanz aufgeschaukelt haben. Grebnev, mit dem er schon Doppel-Europameister war, steht bei 6:10. Mit diesen Zahlen sind sie nun also auf Vereinssuche.

Mazunov muss wohl hoffen, dass er den dreien genug mitgegeben hat, damit sie ihren weiteren Weg im Zweifel - wo auch immer - alleine meistern.

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