Tischtennis:Schwere Aufgabe für Bolls Erben

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Beim Turnier in Macao gelangte Dang Qiu noch ins Finale, danach pausierte er angeschlagen. Nun ist der Europameister von München bereit zur Titelverteidigung. (Foto: VCG/Imago)

Die deutsche Dominanz bei Einzel-Europameisterschaften ist seit Jahrzehnten erdrückend. Doch in Linz müssen sich nach dem Abschied von Timo Boll Titelverteidiger Dang Qiu, Dimitrij Ovtcharov und Co. immer stärkerer internationaler Konkurrenz erwehren.

Von Ulrich Hartmann, Linz/München

Der Schwabe Dang Qiu ist mit 27 Jahren der jüngste unter den derzeit besten deutschen Tischtennismännern. Vor zwei Jahren ist der in Nürtingen geborene Sohn chinesischer Eltern in München Einzel-Europameister geworden und vor zwei Monaten hat er seine ersten Olympischen Spiele bestritten (Aus in der zweiten Runde). Zugleich beendete in Paris der 43 Jahre alte Timo Boll seine Karriere in der Nationalmannschaft.

Wenn Qiu nun an diesem Donnerstag in die Einzel-Europameisterschaft im österreichischen Linz startet, dann könnte der Weg für ihn frei sein, dann könnte er die Ikone Boll als Führungsfigur des deutschen Tischtennis beerben. Doch sowohl die interne als auch die europäische Konkurrenz hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verschärft. Der als Titelverteidiger ins 64er-Hauptfeld gehende Qiu glaubt sogar: „Vielleicht ist das die am stärksten besetzte Europameisterschaft jemals.“

Es ist acht Jahre her, dass zuletzt mal kein Deutscher Einzel-Europameister geworden ist. 2016 in Budapest triumphierte der Franzose Emmanuel Lebesson. Von den letzten 15 Einzel-EM-Titeln bei den Männern hat für Deutschland acht Timo Boll gewonnen, zwei Dimitrij Ovtcharov und zuletzt Dang Qiu. Nur viermal gewannen seit 2002 Spieler anderer Nationen: 2003 und 2005 der Weißrusse Wladimir Samsonow, 2009 der Däne Michael Maze und 2016 Lebesson.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte im europäischen Männer-Tischtennis waren geprägt von einer deutschen Dominanz. Sollte diese nun vorbei sein, hätte das aber nur bedingt damit zu tun, dass Boll seine internationale Karriere beendet hat (für Borussia Düsseldorf spielt er noch eine letzte Vereinssaison). Es hätte vielmehr damit zu tun, dass die Konkurrenz breiter und stärker geworden ist.

Die drei deutschen Topspieler Dang Qiu, Dimitrij Ovtcharov und Patrick Franziska gehören bei der Europameisterschaft zwar zu den Mitfavoriten, der Kreis der Titelaspiranten ist zusätzlich mit den französischen Brüdern Felix und Alexis Lebrun, dem Schweden Truls Möregardh, dem Slowenen Darko Jorgic und dem Dänen Jonathan Groth aber enorm. Und erfahrungsgemäß kommt auch noch irgendein Spieler hinzu, den niemand auf dem Zettel hatte. „In Linz sind unfassbar viele gute Leute am Start“, sagt Dang Qiu, „vor allem Felix Lebrun und Truls Möregardh starten nach ihren olympischen Einzelmedaillen mit breiter Brust.“ Möregardh holte in Paris immerhin Silber, Lebrun Bronze.

Das Thema Überlastung trifft alle Profis: „Der immer schon volle Terminplan ist in den letzten Jahren noch viel voller geworden“, sagt Dang Qiu

Der Männer-Bundestrainer Jörg Roßkopf ist natürlich nicht gewillt, historisch gewachsene Ambitionen einfach aufzugeben. „Unser Anspruch ist immer, zu gewinnen“, sagt er. „Nachdem wir in der Vergangenheit die Europameisterschaften dominiert haben, sind die Kräfteverhältnisse in Europa inzwischen zwar ausgeglichener, aber wir haben mit Dang Qiu, Patrick Franziska, Dimitrij Ovtcharov und Benedikt Duda vier Weltklassespieler am Start, die auch um den Titel mitspielen.“ Der stets etwas zurückhaltendere Sportdirektor Richard Prause sagt: „Trotz der immer stärkeren Konkurrenz bin ich optimistisch, dass wir bei der Medaillenvergabe ein Wort mitreden.“

Wachablösung: Timo Boll verabschiedete sich bei den Sommerspielen in Paris tränenreich aus der Nationalmannschaft, spielt aber noch eine letzte Vereinssaison für Borussia Düsseldorf. (Foto: Maxim Thore/Bildbyran/Imago)

Dang Qiu, der im Viertelfinale auf den Franzosen Alexis Lebrun treffen könnte und im Halbfinale auf Möregardh, hat im September erst im Finale eines hochkarätigen Turniers in Macau gegen den chinesischen Weltranglistenzweiten Lin Shidong verloren und dafür ein Preisgeld von etwa 25 000 Euro bekommen. Auf das noch lukrativere Großturnier China Smash in Peking verzichtete er anschließend wegen Rückenproblemen. Mittlerweile fühlt er sich aber wieder fit. „Meine Form im Training war zuletzt gut“, sagt der in Düsseldorf lebende und für die Borussia spielende Qiu, „auch wenn die Strapazen des vollen Terminkalenders mit den vielen Reisen immer Spuren der Müdigkeit hinterlassen.“

Viele Spieler fühlen sich zunehmend überbeansprucht. „Der immer schon volle Terminplan ist in den letzten Jahren noch viel voller geworden, in der Woche vor der EM etwa hatten wir noch zwei Bundesliga-Spiele“, schildert Qiu. Man bestreite nahezu jedes Turnier ohne gezielte Vorbereitung. „Das ist eigentlich katastrophal.“ Vom Versuch, seinen EM-Titel zu verteidigen, lässt er sich aber auch unter schwierigsten Bedingungen keinesfalls abhalten, zumal das Problem der Überbelastung auch für die meisten internationalen Akteure gilt. 27 der EM-Starter spielen in der deutschen Bundesliga.

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