Tischtennis:Raus aus dem Hobbykeller

Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov haben ihren Sport populär gemacht, die WM in ihrer Heimatstadt Düsseldorf ist für beide ein Karrierehöhepunkt. Nur: Wer soll es in Zukunft mit den Chinesen aufnehmen?

Von Ulrich Hartmann, Düsseldorf

Die Tischtennis-Welt birgt für Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov nur noch wenige Geheimnisse. Die beiden besten deutschen Spieler erkennen die Rotationsrichtung eines sich 100-mal pro Sekunde drehenden Balles an der Bewegung des Aufdrucks; sie beklagen, dass Schlägerbeläge durch chemische Behandlung verbotenerweise elastischer gemacht werden; sie kennen Psychotricks und Nervenspiele; sie wissen um die Scharmützel im Weltverband. Sie sind alte Hasen in einer Branche, die sich gerade schnell verändert, im athletischen wie im finanziellen Bereich.

Es wird gemunkelt, dass die chinesischen Stars mittlerweile zweistellige Millionenbeträge pro Jahr verdienen. Ovtcharov findet, man sollte Gehälter offenlegen wie im US-Sport, dort wisse jeder, wer wie viel verdient. Boll sagt: "Die wenigsten wissen, dass man als Tischtennisspieler Multimillionär werden kann." Sind Boll und Ovtcharov Multimillionäre? Sie grinsen auf diese Frage und geben sich geheimnisvoll. Den Vorschlag, ihre Gagen offenzulegen, lehnen sie schmunzelnd ab. "Wir wollen ja nicht die Ersten sein", sagt Ovtcharov.

Mit Tischtennis, diesem Sport vom Schulhof und aus dem Hobbykeller, kann man also reich werden. Das Problem: Man muss schon wirklich sehr talentiert sein, jeden Tag etliche Stunden üben und es mindestens mal in den A-Kader des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) schaffen. Man sollte auch nicht viel älter sein als Anfang zwanzig. An eine überschaubare Zielgruppe richtet sich mithin die subtile Berufsberatung, die Boll und Ovtcharov im Vorfeld der Weltmeisterschaft leisten, die in dieser Woche in Düsseldorf stattfindet. Das deutsche Tischtennis braucht dringend neuen Nachwuchs auf Weltklasseniveau. Ovtcharov ist 28 Jahre alt, Boll 36. Tischtennis ist in Deutschland, obwohl von Millionen Fans leidenschaftlich praktiziert, eine zum Zwecke des Lebensunterhalts unterschätzte Sportart. Ovtcharov berichtet: Wenn ihn branchenfremde Menschen im Smalltalk bisweilen fragen, was er denn so beruflich macht und er antwortet: "Tischtennis spielen" - dann bekomme er mitunter zu hören: "Ja, Tischtennis, das macht Spaß."

Tischtennis: Doch, auch vom Tischtennisspielen kann man ganz gut leben - wenn man so gut ist wie Dimitrij Ovtcharov (links) und Timo Boll.

Doch, auch vom Tischtennisspielen kann man ganz gut leben - wenn man so gut ist wie Dimitrij Ovtcharov (links) und Timo Boll.

(Foto: Baron/Getty; Mouhtaropoulos/Getty)

Boll und Ovtcharov haben beim Tischtennis nicht immer nur Spaß. Sie schinden damit seit Jahren ihre Körper. Und sie haben in der Peripherie der chinesischen Spitzenspieler eine deutsche Epoche geprägt. Boll hat in den vergangenen 16 Jahren in der Weltrangliste nie tiefer als auf dem 14. Platz gestanden. Meistens war er in den Top Ten. Insgesamt zehn Monate war er die Nummer eins. Diese Fakten machen ihn zum besten deutschen Tischtennisspieler der Geschichte. Ovtcharov hat ihn Ende 2013 in der Weltrangliste überholt, steht seither durchgehend in den Top Ten und ist damit nominell der beste nicht-chinesische Spieler des Planeten. An diesem Mittwoch steigen beide im Einzel in den WM-Wettbewerb ein.

Früher haben die beiden Tür an Tür gewohnt - und oft zusammen Serien im Fernsehen angeschaut

Ihr Bundestrainer Jörg Roßkopf, 1989 in Dortmund Doppel-Weltmeister mit Steffen Fetzner, sagt: "Es wird Zeit, dass wir mal wieder einen deutschen Weltmeister bekommen." Boll und Ovtcharov sagen so etwas nicht. Sie träumen von einer Medaille, aber zusätzlichen Druckaufbau finden sie kontraproduktiv. "Ich muss niemandem mehr etwas beweisen", sagt Ovtcharov. "Die WM ist eine schöne Gelegenheit, zu Hause noch mal ein gutes Ergebnis bei einer WM abzuliefern", sagt Boll fast lapidar.

Sie bremsen sich verbal absichtlich ein bisschen, denn eine WM in Düsseldorf ist so ziemlich das Beste, was ihnen in ihrem fortgeschrittenen Tischtennisalter passieren konnte. Über Düsseldorf können die beiden schwärmen. Im Stadtteil Gerresheim haben sie einst Tür an Tür auf derselben Etage gewohnt, haben zusammen gefrühstückt und abends zusammen Serien geschaut. Am Fuß des Grafenberger Waldes trainieren sie regelmäßig als Nationalspieler im Leistungszentrum des Verbands. Im China-Center in der Innenstadt hat Boll die beste Peking-Ente außerhalb Chinas gegessen. Die beiden plaudern gern über die guten alten Zeiten. Heute wohnt Ovtcharov mit Frau und Kind im Stadtteil Ludenberg, während Boll meist bei Frau und Kind in Höchst im Odenwald ist. In dieser Woche dürfen sie sich über ihre zunehmend bürgerliche Existenz damit hinwegtrösten, dass sie in Düsseldorf um WM-Medaillen spielen. Die Heim-WM ist für sie mehr als eine WM im eigenen Land. Sie ist eine WM in der eigenen Stadt.

Boll und Ovtcharov könnten erbitterte Rivalen sein. Seit zehn Jahren streiten sie um die deutsche Vorherrschaft. Doch sie sind wirklich Freunde. Sie zanken nicht darum, wer der Bessere ist, sondern kämpfen Seite an Seite um die Etablierung des Tischtennissports. Dabei war Boll lange sogar sportlicher Mentor für Ovtcharov. "Timo war früher wie ein großer Bruder für mich", sagt der. Wenn man sie gemeinsam zum Interview trifft und fragt, wer vom Potenzial her der bessere Spieler ist, dann antwortet Ovtcharov als Erster: "Timo war schon mal die Nummer eins der Welt - ich noch nie." Der Bundestrainer Roßkopf sieht vor allem einen Unterschied: "Dimitrij ist ein harter Arbeiter, Timo ein begnadetes Talent." Boll ist acht Jahre älter, er trainiert mittlerweile selektiver, spielt ökonomischer als früher, ist anfällig im Rücken und in den Knien. Was Ovtcharov mit seiner Power macht, gleicht Boll mit Ballgefühl und Routine aus.

Das deutsche Aufgebot für die Tischtennis-WM

Männer, Einzel

Dimitrij Ovtcharov (Fakel Orenburg), Timo Boll (Borussia Düsseldorf), Bastian Steger (Werder Bremen), Ruwen Filus (TTC Fulda-Maberzell), Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken), Ricardo Walther (TTC Bergneustadt).

Doppel

Boll/Ma Long (China), Franziska/Jonathan Groth (Dänemark), Filus/Walther.

Frauen, Einzel

Petrissa Solja, Chantal Mantz (beide TTC Berlin Eastside), Sabine Winter, Kristin Silbereisen (beide SV DJK Kolbermoor), Nina Mittelham (TuS Bad Driburg), Yuan Wan (TTG Bingen/Münster-Sar.).

Doppel

Solja/Winter, Silbereisen/Mittelham, Mantz/Yuan Wan.

Mixed

Solja/Fang Bo (China), Benedikt Duda (TTC Bergneustadt)/Winter, Steffen Mengel (TTC Bergneustadt)/Silbereisen.

Kürzlich haben sie im Champions-League-Finale zwischen Ovtcharovs russischem Klub Fakel Orenburg und Bolls Verein Borussia Düsseldorf gegeneinander gespielt. Das Match ging über fünf Sätze und dauerte 61 Minuten. Ovtcharov gewann hauchdünn. "Besseres Tischtennis hat man in Düsseldorf selten gesehen", schwärmte DTTB-Sportdirektor Richard Prause. "Wenn wir bei der WM auch so spielen, kann es für beide weit gehen", sagte Ovtcharov. Laut Setzliste könnten beide das Viertelfinale erreichen. Erst dann droht Boll als Gegner der Chinese Ma Long und Ovtcharov Landsmann Fan Zhendong.

In China wäre Boll längst ausgemustert, weil dort so unglaublich viele Spieler nachkommen. Wang Liqin wurde mit 35 Jahren in den Ruhestand geschickt, Ma Lin mit 33, Wang Hao mit 32. Sie mussten Platz machen für bubenhafte Talente: Liu Gaoyuan ist 22, Fan Zhendong 20. Chinas Tischtennis ist ein reißender Strom. Wenn Boll und Ovtcharov dereinst aufhören, ist das deutsche Tischtennis schlimmstenfalls nur noch ein plätscherndes Bächlein. Auch das soll die WM in Düsseldorf abzuwenden helfen. Boll und Ovtcharov wollen Werbung für ihren Sport machen. Dass sie mit ihrem liebsten Hobby reich geworden sind, lassen sie als geheimnisvolle Konnotation gern im Raum stehen. Vielleicht lotst ja auch diese Perspektive mehr junge Menschen zu einem Sport, der in Deutschland dringend neuen Nachwuchs benötigt.

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