Süddeutsche Zeitung

Tischtennis:Timo Boll zeigt, warum sie ihn fürchten

Lesezeit: 3 min

Der deutsche Tischtennisprofi ist bei seiner sechsten Olympia-Teilnahme zum Auftakt siegreich, weil er seinen Gegner analysiert und dann zerlegt. Im Alter von 40 will er endlich die Einzel-Medaille gewinnen.

Von Jürgen Schmieder

Natürlich verlor Timo Boll diesen ersten Satz gegen Kirill Gerassimenko (Kasachstan), 7:11, und wer noch nie eine Partie des besten deutschen Tischtennisspielers der Geschichte gesehen hat, dürfte in diesem Moment besorgt gewesen sein: Boll hatte sich leichte Fehler geleistet, der Gegner präzise und aggressiv agiert. Alle anderen, und übrigens auch Boll und Gerassimenko, wussten, wie die Partie wohl verlaufen würde.

Boll unterhielt sich kurz mit Trainer Jörg Roßkopf, der nickte gelassen und gab ein paar Ratschläge ("bissl rausboxen, näher an die Platte"), Gerassimenko dagegen zuckte mit den Schultern, als müsse er sich für eine bereits verlorene Partie entschuldigen - und so war es letztlich auch.

Je länger eine Partie geht, desto besser kennt Boll den Gegner

Die restlichen Sätze: 11:6, 11:7, 11:2, 11:1, alle für Boll. Der hatte diesen ersten Durchgang wie so häufig in seiner mittlerweile 27 Jahre dauernden Profikarriere genutzt, den Gegner zu analysieren und sich auf ihn einzustellen, das Ergebnis ist bei Best-of-seven-Partien bis elf fast egal.

Natürlich kann man heutzutage fast alles über den Gegner per Videostudium lernen, und doch gilt in Disziplinen wie Tischtennis, wo der eigene Schlag immer auch durch den vorhergehenden Schlag des Gegners beeinflusst wird, die alte Mike-Tyson-Regel, derzufolge jeder einen Plan hat, bis er getroffen wird. Oder, auf Tischtennis übertragen: einen langen Ballwechsel mit Boll überstehen muss.

Je länger Ballwechsel dauern, und je länger eine Partie geht, desto besser kennt Boll den Gegner; als wäre er ein Schachcomputer, der bei jedem Zug des Kontrahenten Daten sammelt und sie dann für sich zu nutzen weiß. Im zweiten Satz war Gerassimenko, der für Werder Bremen in der Bundesliga spielt, plötzlich nicht mehr nahe an der Platte, er wurde von Boll nach hinten gedrängt, vom dritten Durchgang an machte der Kasache die leichteren Fehler, und als Gerassimenko im fünften Satz eine Auszeit nahm, sagte Roßkopf zu Boll nur noch: "Locker bleiben." Der blieb locker und entschuldigte sich danach mit einem freundlichen Kopfnicken dafür, dass er Gerassimenko am Ende fast gedemütigt hatte.

So spielt Boll nun mal: geduldig, analytisch, taktisch gewieft, und so will er nun, bei seiner sechsten Olympia-Teilnahme, endlich die ersehnte Einzelmedaille gewinnen.

Das ist ja das Motiv zahlreicher Sportfilme, und auch im wahren Sportlerleben passiert es - man denke nur an den unfasslichen Lauf des 39 Jahre alten Jimmy Connors bei den US Open 1991 oder den Super-Bowl-Sieg des 43 Jahre alten Quarterbacks Tom Brady in der vergangenen Saison - häufiger, als man denken mag: Der alte Cowboy kommt am Ende seiner Karriere noch mal zurück für ein letztes Rodeo, und er zeigt den jungen Hüpfern, dass im Sport nicht immer der mit den größten Muskeln oder der besten Technik gewinnt, sondern hin und wieder der Erfahrene, Ausgebuffte, Gewitzte.

Darin liegt ja die Hoffnung für die Normalsterblichen, wenn sie älter werden und sehen, dass sie selbst vielleicht auch ein paar Eigenschaften haben, die sie von den Jüngeren, Stärkeren, Frecheren abheben.

Schon im Viertelfinale könnte es zum Duell mit dem auf Rang eins geführten Chinesen Fan Zhendong kommen

Boll hat im März seinen 40. Geburtstag gefeiert, daheim in Höchst, mit Pizza vom Dönerladen. Er ist in China eine Berühmtheit; so groß, dass er ohne Begleitung nicht über eine Kreuzung gehen kann. Hier, in Deutschland, da kennen viele seinen Namen und vielleicht auch seine Erfolge (Silber und zwei Mal Bronze bei Olympia mit dem Team; acht EM-Titel im Einzel; erster Deutscher, der je die Weltrangliste anführte, vier Mal insgesamt, mit 38 schaffte er es noch mal). Aber zur Unsterblichkeit fehlt eben diese Einzelmedaille bei Olympia. Leute, die ihn kennen, sagen: Es nagt an ihm, zumindest ein bisschen.

Diese Spiele sind wohl die letzte Chance dafür, und Bundestrainer Roßkopf, der ihn auf dieses Turnier vorbereitet hat, sagt: "Timo kann immer jeden schlagen." Klar, der Rücken zwickt, die Hüfte ist steifer, er ist nicht mehr ganz so beweglich wie einst; aber: Seine Augen sind noch immer grandios, das dynamische Sehen ist besser als das von Kampfpiloten. Er ist ein Tüftler und Taktiker, der seine Gegner vielleicht nicht mehr von der Platte fegt, sondern sie analysiert, ausguckt und dann übertölpelt. Wie er es mit Gerassimenko getan hat.

Jeder, der mal einen Tischtennisschläger in der Hand hatte - das dürften etwa 100 Prozent der Deutschen sein -, kennt diesen einen Gegner, der eigentlich verlieren sollte, aber aufgrund von Erfahrung und Spielwitz dennoch oft gewinnt. Im Weltklasse-Tischtennis ist das Boll. Er ist auf Platz acht gesetzt, gegen ihn antreten will wohl niemand, doch schon im Viertelfinale könnte es zum Duell mit dem auf Rang eins geführten Chinesen Fan Zhendong kommen.

Diesen ersten Test hat Timo Boll also bestanden, mit einer typischen Timo-Boll-Partie. Im Achtelfinale, der Gegner wird zwischen Jeoung Young-sik (Südkorea, Platz zehn der Setzliste) und Panagiotis Gionis (Griechenland) ermittelt, sollte niemand verblüfft sein, sollte Boll den ersten Satz verlieren. Gehört alles zum Plan.

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