Süddeutsche Zeitung

Tischtennis bei den European Championships:Sie wächst noch

Annett Kaufmann ist erst 16 Jahre alt, geht noch zur Schule, zeigt aber bei der EM in München ihr großes Potenzial. Wie stetig und fulminant sie sich steigert, verblüfft viele.

Von Andreas Liebmann

Für eine kurze Weile wirkte Annett Kaufmann wie 16. In ihrem Fall ist das leicht zu entschuldigen, weil sie ja tatsächlich erst 16 ist, gerade mal seit ein paar Wochen. Aber die Situation schien sie doch zu überfordern: Es war ihr erstes Tischtenniseinzel bei der Heim-EM in München, sogar den Center Court hatte sie für den großen Auftritt bekommen in der Rudi-Sedlmayer-Halle. Und dann stand ihr dort eine Estin mit einem fiesen Langnoppenbelag gegenüber, die ihr mit ihrer unorthodoxen Spielweise Rätsel aufgab. Hilfesuchend blickte sie zur Trainerin Lara Broich hinter die Bande, breitete ratlos die Arme aus, schüttelte den Kopf. Der erste Satz? 6:11 verloren. Im zweiten 0:4 hinten, dann 4:8. Es sah nicht gut aus.

Sechzehnjährige haben ganz unbedingt das Recht, gelegentlich mal einfach 16 zu sein, aber Annett Kaufmann ist eben auch die aktuelle U19-Europameisterin im Einzel. Im vergangenen Jahr hat sie sogar die Einzel-Europameisterschaft der Altersklasse U21 gewonnen, als Jüngste der Geschichte. Und weil sie 2021 auch einen Einsatz bei der Mannschaftseuropameisterschaft der Frauen bekam, die Deutschland gewann, hat sie auch diesen Titel schon sicher. Im vergangenen Jahr ist sie sportartenübergreifend zur Newcomerin des Jahres in Deutschland gewählt worden. Wer also über die Zukunft des deutschen Frauentischtennis spricht, kommt um ihren Namen nicht herum.

Der Verband nominierte sie im Doppel nach - ein Zeichen, welche Hoffnungen er in sie setzt

In der Gegenwart des deutschen Frauentischtennis trug die Bietigheimerin, die in der Bundesliga für die SV Böblingen spielt, eine kleine Schramme auf der Stirn. Die stamme aus ihrem Auftakteinzel gegen die Estin Aira Avameri, erklärte Annett Kaufmann grinsend. Sie habe sich selbst den Schläger an die Stirn gehauen, versehentlich. Vielleicht habe sie das ja gebraucht, um klar zu werden. Beim Punkt zum 9:8 war das passiert im zweiten Satz, sie hatte ihren Rückstand gerade aufgeholt, die Vorhand aus dem Ellenbogen bereits durchgezogen, noch ehe die Beine sie in eine dafür geeignete Position bringen konnten. Am Ende gewann sie dieses so knifflige Match doch noch deutlich. Es hatte etwas gedauert, bis sie ihr Rezept fand, aber sie war im Turnier angekommen und applaudierte erleichtert dem Publikum.

Fünf Männer und fünf Frauen darf jede Nation im Einzel an den Start bringen, dazu je zwei Doppel und zwei Mixed-Paarungen. Dass der Deutsche Tischtennis-Bund in München sieben Frauen einsetzt, hat damit zu tun, dass sich Annett Kaufmann und die 20-jährige Franziska Schreiner durch ihre Erfolge bei der U21-EM persönliche Startplätze gesichert hatten - Schreiner war dort Dritte. Dass der DTTB die beiden als zweites Doppel nachnominierte, sagt einiges darüber aus, welche Hoffnungen der Verband in sie setzt. Sie kämpften sich dann bis ins Achtelfinale vor, wo am Mittwoch Schluss war: 0:3 unterlagen sie den arrivierten Teamkolleginnen Sabine Winter und Nina Mittelham, zweien also, die mit anderen Partnerinnen schon Doppel-Europameisterinnen waren.

Im Wissen um Kaufmanns und Schreiners Stärken hatten sie eine clevere Taktik gewählt - umso mehr waren die Jüngeren angefressen. So viele internationale Momente kriegt man nicht im starken deutschen Team. "Es ist schon sehr enttäuschend, wenn man davor auf der Höhe seiner Leistungen spielt und es dann nicht mehr klappt", sagte Schreiner.

Annett Kaufmann kommt aus einer Sportlerfamilie. Der Vater war Eishockeyprofi, die Mutter Skifahrerin, Tischtennis spielt sonst nur ihre ältere Schwester Alexandra. Das ist bei der Unterfränkin Franziska Schreiner etwas anders. Die Mutter Yunli war chinesische Topspielerin, die Tante Weltmeisterin, Vater Ralf in der Tischtennis-Bundesliga aktiv, Bruder Florian deutscher Jugendmeister, musste seine Profilaufbahn verletzungsbedingt aber früh abhaken. Viel mehr Familienkompetenz geht nicht. Franziska Schreiner, die für den TSV Langstadt in der Bundesliga spielt, zog nach dem Abi vor einem Jahr als Profi nach Düsseldorf. Man merke, dass sie sich allmählich daran gewöhne, sagt Broich, auch Schreiner selbst erzählt, dass es etwas gedauert habe, sich als echtes Mitglied der Trainingsgruppe zu fühlen.

Am Ende ereilt beide dasselbe Los: Nach großem Kampf haben sie das Weiterkommen vor Augen - und vergeben ihre Siegchancen

Annett Kaufmann geht noch zur Schule. Wie stetig und fulminant sie sich steigert, wie Lara Broich es ausdrückt, ist ganz besonders erstaunlich (fast erstaunlicher noch, als dass die Tischtennis-Linkshänderin in vielen anderen Bereichen des Lebens Rechtshänderin ist). Denn die Corona-Zeit hat die Teenagerin nicht zuletzt mit Wachsen verbracht. Die Schübe sind erstaunlich, der jüngste sei Anfang des Jahres erfolgt, so Broich: "Dann sind halt wieder alle Winkel anders." Früher attackierte sie viel mehr über dem Tisch, nun steht sie naturgemäß weiter hinten, nutzt ihre Reichweite. Ein wenig habe sie mit alldem zuletzt zu kämpfen gehabt, erzählt Broich, aber inzwischen habe sie "sich und ihren Körper wiedergefunden" - nicht nur die Stirn. Die Beinarbeit muss noch nachziehen, aber die Aggressivität ist geblieben.

Im Einzel dominierten beide ihre jeweilige Vorrundengruppe, erreichten die Hauptrunde der besten 64 - wo am Mittwoch beide dasselbe Schicksal ereilte: Schreiner drehte mit einer reifen Leistung die Partie gegen die Spanierin María Xiao, führte hoch im siebten Satz, dann riss der Faden. Kaufmann unterlag der favorisierten Polin Natalia Bajor in einem ebenfalls fast schon verlorenen und kurz vor Schluss fast schon gewonnenen Match, wie Schreiner mit 9:11. Sie riss sich den Ellbogen am Tisch auf, brachte die Halle mit spektakulären Punkten zum Toben, schrie, ballte die Faust und vergab dann doch auf bittere Art ihre Siegchance. In diesen Momenten war sie ganz die U21-Europameisterin. Es blieb für beide ein Vorgeschmack auf das Große, das noch kommen soll.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5640757
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/fse/ebc
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.