Tischtennis:Erleichterung beim Klassentreffen

GER, TTBL, TTC Neu-Ulm vs SV Werder Bremen / 04.01.2021, Sporthalle Hermann-Köhl-Schule, Pfaffenhofen, GER, TTBL, TTC Ne

"Die Jungen entwickeln sich": Mit gerade mal 18 Jahren hat Vladimir Sidorenko bereits eine ausgeglichene Bilanz in der stärksten Liga Europas.

(Foto: Hafner/Nordphoto/imago)

Der TTC Neu-Ulm verbessert sich nach einem Zittersieg gegen Bad Homburg auf Rang zwei der Tischtennis-Bundesliga. Das Vertrauen in den 18-jährigen Vladimir Sidorenko hat sich bereits ausgezahlt - und einen Star aus China überflüssig gemacht.

Von Andreas Liebmann

Es war Maksim Grebnevs Gesicht, das erahnen ließ, was gleich passieren würde. Der 19-jährige Russe war eben noch wild herumgesprungen, hatte die Fäuste geballt, seinen Doppelpartner Lev Katsman angefeuert, abgeklatscht, er war voller Adrenalin. Es stand viel auf dem Spiel: Ein Sieg im Schlussdoppel würde den Überraschungserfolg gegen den TTC Neu-Ulm bedeuten, den zweiten TTBL-Sieg überhaupt für Aufsteiger Bad Homburg, einen, den zuvor niemand erwartet hätte. Und es sah gut aus für die jungen Russen, die als Doppel zweimal U18-Europameister waren. Doch nach dem verlorenen Ballwechsel zum 7:5 in diesem fünften Satz sank Grebnev erstmals hadernd in die Knie und hielt die Hände vor die Augen, trotz der Führung. Zur Auszeit beim 7:6 versenkte er einen leidenden Blick im Handtuch. Bei 8:10 blies er die Backen auf.

Vladimir Sidorenko hatte auf der anderen Seite des Netzes ebenfalls versucht, sich und seinen Partner zu pushen, auch, um die eigene Nervosität abzustreifen. Das gelang ihm nur bedingt, trotzdem bogen sie dieses Duell letztlich um, zum 11:7, 9:11, 7:11, 12:10, 11:8. Es war auch für die Bayern um viel gegangen am Dienstagabend, sie sind nun Zweite hinter Rekordmeister Borussia Düsseldorf, mit besten Chancen auf den Playoff-Einzug. Sidorenko wusste nach dem verwandelten Matchball zum 3:2-Gesamtsieg kaum, wohin mit seiner Erleichterung, also stemmte er nach prüfendem Blick seinen Partner Tiago Apolonia in die Höhe. Der Portugiese ließ das äußerlich so ungerührt mit sich geschehen, wie er zuvor an der Platte gewirkt hatte, als er exakt jene Ruhe ausstrahlte, die Grebnev verloren ging. Ebenso gut hätte Sidorenko nun einen der Schiedsrichter in die Luft heben können oder einen Geschirrspüler.

Alle vier bisherigen Doppel hat Neu-Ulm für sich entschieden - das macht mal eben acht Punkte mehr in der Tabelle

Mit dieser Szene ist eigentlich schon eine Menge skizziert über das zweite Jahr des TTC Neu-Ulm in der Tischtennis-Bundesliga. In seinem ersten Jahr hatte es der per Wildcard aus dem Boden gestampfte Klub mit einer Reihe Routiniers und dem jungen Koreaner An Jaehyun probiert. Nur den 34-jährigen Apolonia hat er danach behalten und den mehrmaligen deutschen Jugendmeister Kay Stumper. Zur zweiten Saison brachte der neue Trainer Dmitrij Mazunov dann seinen Schüler Sidorenko mit aus Ochsenhausen, wie Stumper gerade 18, und in Emmanuel Lebesson, 32, holte der Klub einen zweiten gestandenen Weltklasse-Profi. Das war's. Riskant? "Ein bisschen vielleicht", findet Teammanagerin Nadine Berti. Eine größere Verletzung hätte natürlich nicht dazwischenkommen dürfen. "Aber es ist aufgegangen." Man habe Sidorenko die Chance geben wollen, und auf Playoffs habe man ohnehin nicht spekuliert.

Dass diese nun trotzdem immer näher rücken, hat mit Sidorenkos Entwicklung zu tun. Mit 7:7 weist der junge Russe in der mit Abstand stärksten europäischen Tischtennis-Liga eine ebenso ausgeglichene Bilanz auf wie der im Vorjahr überragende Apolonia (9:9). Und was man nicht vergessen dürfe, sagt Mazunov: Alle vier bisherigen Entscheidungsdoppel hat der TTC gewonnen, das sind mal eben acht Punkte in der Tabelle. Drei dieser Siege eroberte Sidorenko an Apolonias Seite. Am Dienstag habe wohl die Erfahrung des Portugiesen den Ausschlag gegeben, glaubt der Trainer, dennoch zeige die Bilanz, dass auch Sidorenko in diesen Alles-oder-Nichts-Duellen starke Nerven habe. Er sehe zudem, wie gut die Routiniers und die Talente als Team harmonierten, wie viel die Jungen von den Alten lernen dürften. "Das funktioniert fantastisch!"

Auch die gegnerischen Talente werden in der Neu-Ulmer Trainingsgruppe von Dmitrij Mazunov ausgebildet

Die Partie am Dienstag war auch für Coach Mazunov eine ganz besondere, denn seine jungen Landsleute Katsman und Grebnev, beide 19, trainieren gemeinsam mit Sidorenko in Mazunovs Neu-Ulmer Trainingsgruppe. Auch der Rumäne Rares Sipos, 20, der dritte junge Wilde im Gäste-Team, schaut ab und an für eine Woche in Mazunovs Training vorbei. "Ein bisschen komisch war das", sagt der 47-Jährige, "aber vor allem für die Jungs - auch das müssen sie lernen." Er selbst komme mit solchen Situationen gut klar, schließlich sei er früher im Finale um die russische Meisterschaft auch schon gegen seinen Bruder Andrei angetreten: "Das war viel schlimmer."

Dass es die Gäste seinem Klub derart schwer machten, fiel gewissermaßen auch auf Mazunovs Können zurück. Und der Vergleich mit den anderen Talenten zeigt, wie wenig selbstverständlich die bisherige Ausbeute seines Ziehsohns Sidorenko ist. Katsman und Sipos haben beim Schlusslicht Bad Homburg verheerende Saisonbilanzen, dabei hatten sie auch gegen Topleute manchen Sieg schon vor Augen gehabt. So wie Sidorenko am Dienstag gegen Sipos, als er im fünften Satz 6:0 führte und doch verlor. Danach unterlag Apolonia 2:3 gegen Katsman. Lebesson musste gegen Sipos all seine Routine aufbieten, um den TTC mit seinem zweiten Punkt des Tages ins Doppel zu retten.

"Die Mannschaft funktioniert, warum sollte man den Jungen einen Platz wegnehmen", fragt der Trainer

"Man muss Geduld haben mit jungen Spielern", sagt Mazunov. "Die entwickeln sich schon." Mit dieser Überzeugung ist auch die Absage an ein anderes Experiment verbunden. Mitte November hatte Neu-Ulm den Chinesen Hao Shuai eingeflogen, die ehemalige Nummer sieben der Welt, ein vermeintlich großer Fang. Doch nach einem 3:2 gegen Benedikt Duda war der 37-Jährige von Düsseldorfs Kristian Karlsson regelrecht verdroschen worden. "Er war nicht fit", sah Mazunov, der nicht vorhat, Hao erneut anzufordern. Nicht mal, falls es wirklich klappen sollte mit den Playoffs.

Hao stand schon in der Weltrangliste, als Sidorenko in Tomsk geboren wurde, aber nun sei der U21-Europameister, der auf die russische Kurzform Vova hört, auf einem ähnlichen Level wie der Chinese. Im Januar hat er Bremens Mattias Falck bezwungen, den wegen seiner unkonventionellen Spielweise gefürchteten WM-Zweiten. "Die Mannschaft funktioniert, warum sollte man den Jungen einen Platz wegnehmen?", fragt Mazunov. Auch Stumper werde bald mehr Einsätze bekommen, verspricht er. Nur Geduld.

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