Süddeutsche Zeitung

Tischtennis:Endlich wieder Bonusmeilen

Einzel-EM, Olympia, Mannschafts-EM statt, Einzel-WM: Auf die Tischtennis-Elite warten vier Großturniere binnen fünf Monaten. Da braucht es außer einer guten Verfassung auch einen stabilen Körper.

Von Ulrich Hartmann, Warschau/München

Petrissa Solja hat sich ganz schön was vorgenommen: Drei Wettbewerbe binnen vier Tagen in dieser Woche bei der Einzel-Europameisterschaft in Warschau - und in einem Monat gleich wieder drei Wettbewerbe binnen zwei Wochen bei den Olympischen Spielen in Tokio. "Könnte anstrengend werden", sagt sie lakonisch. Aber wenn sich nach mehr als einem Jahr corona-bedingtem Tischtennis-Sparprogramm die sportlichen Höhepunkte ballen, darf man nicht lamentieren.

Das Gute ist: Je anstrengender die nächsten sechs Wochen für die 27 Jahre alte Pfälzerin werden, desto erfolgreicher ist sie dann aber auch. Denn jede zusätzliche Runde in den K.o.-Systemen beider Wettbewerbe kostet zwar Kraft, bringt sie aber auch den Medaillen näher. Und auf genau die hat sie es abgesehen.

Erst seit Herbst wird wieder gelegentlich gespielt: ein paar Turniere, die Champions League im Kompaktformat

Der Tischtennis-Zirkus erwacht zu neuem Leben. Nach der Einzel-EM und danach Olympia findet Ende September in Rumänien die Mannschafts-EM statt und im November auch noch die Einzel-Weltmeisterschaft in Houston/USA. Das macht vier Großturniere binnen fünf Monaten. Da braucht es außer einer guten Verfassung auch einen stabilen Körper. Petrissa Solja, Han Ying und Shan Xiaona bei den Frauen sowie Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll und Patrick Franziska bei den Männern gehen mit großen Erwartungen in die EM - und mit gewissen Hoffnungen ins olympische Turnier.

Es gab Zeiten, da hat Ovtcharov Bonusmeilen gesammelt wie andere Leute Punkte im Supermarkt. Da hat er 150 Flüge pro Jahr erreicht. Der 32-jährige Wahl-Düsseldorfer spielt im russischen Orenburg im Verein und bestreitet Turniere in aller Welt. Er war ein Globetrotter in Sachen Tischtennis. Doch dann kam Corona. Im Frühjahr 2020 trainierte er in der Doppelgarage seines Elternhauses. Erst seit Herbst vergangenen Jahres wird wieder gelegentlich gespielt: ein paar Turniere hier, die Champions League im Kompaktformat da. Im März gewann er in Katar das erste Turnier der neuen Serie "World Table Tennis". Doch ab sofort kann Ovtcharov wieder Bonusmeilen sammeln.

21 Goldmedaillen haben deutsche Tischtennis-Spielerinnen und -Spieler bei Einzel-Europameisterschaften in diesem Jahrtausend gewonnen. Boll liegt mit zwölf Individual-Titeln (sieben Mal Einzel und fünf Mal Doppel) vorne. Er ist im März 40 Jahre alt geworden. Das hinderte ihn nicht daran, in dieser Saison mit Borussia Düsseldorf das vierte Triple aus Champions League, Pokal und Meisterschaft zu holen. "Meine Form wird gerade von Woche zu Woche besser", sagt der Odenwälder, "es wird aber trotzdem schwierig, meinen EM-Titel zu verteidigen."

Boll sieht die EM als gute Vorbereitung auf Olympia. Er tritt in Warschau im Einzel an sowie mit Franziska im Doppel

Außer als Chance zu weiteren Titeln in seiner Sammlung sieht Boll die EM als gute Vorbereitung auf Olympia. Er tritt in Warschau im Einzel an sowie zusammen mit Patrick Franziska im Doppel. Ovtcharov und Boll mögen die Frontleute des deutschen Tischtennis sein, aber ein nicht zu unterschätzender Medaillenanwärter ist im Einzel, Doppel und Mixed auch der 29 Jahre alte Franziska vom 1. FC Saarbrücken. "Ich freue mich total auf die EM und meinen Start in drei Disziplinen", sagt er. "Ich werde es aber klassisch angehen: von Spiel zu Spiel."

Die Marathon-Spielerin im deutschen Kader ist Solja. Die Weltranglisten-20. vom Bundesligisten TSV Langstadt spielt Einzel, mit Shan Xiaona Doppel sowie mit Franziska Mixed. Bei Olympia ist sie im Einzel sowie mit Franziska im gemischten Doppel und natürlich auch im Team am Start. Bei Olympia 2016 in Rio feierte Solja den bislang größten Erfolg ihrer Laufbahn. Da gewann sie mit Han Ying und Shan Xiaona sensationell Mannschafts-Silber. Diese Emotionen werden zurückkehren, wenn sie bei der EM nun Anlauf auf ihre zweiten Olympischen Spiele nimmt. "Ich sehe die EM als Wettkampfpraxis, möchte bei so einem wichtigen Turnier aber auch so viele Medaillen wie möglich holen", sagt sie. "Wie anstrengend es wird, ist natürlich davon abhängig, wie weit ich komme."

Eine EM vier Wochen vor Olympia hatten sie im deutschen Tischtennis-Bund zunächst skeptisch betrachtet. "Aber letztlich ist es eine gute Vorbereitung", sagt Sportdirektor Richard Prause. Weil die besten Spielerinnen und Spieler Europas genauso denken und sich mit Blick auf Tokio in Bestform gebracht haben, dürfte das Niveau dieser EM außergewöhnlich hoch sein. "Wir sind froh, fünf Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele durch einen derart bedeutenden Vorwettkampf die Gelegenheit zu einer hochkarätigen Standortbestimmung zu bekommen", sagt Prause.

Bleibt die Frage nach der Belastung. Männer-Bundestrainer Jörg Roßkopf, für stets große Ambitionen bekannt, hat bei der EM nicht nur Medaillen im Sinn. Mit Blick auf Olympia sagt er: "Das Wichtigste ist, dass wir alle gesund aus Warschau zurückkommen."

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