Süddeutsche Zeitung

Tischtennis-EM:Europas Chinesen

Deutschland ist bei der EM so dominant wie bei Tischtennis-Turnieren sonst nur China, gewinnt drei Titel - und denkt schon wieder an das große Duell mit dem Konkurrenten aus Fernost. Einem Nachwuchsspieler gelingt eine große Sensation.

Carsten Eberts

Es sind die bislang erfolgreichsten Tage im Leben von Patrick Baum. 23 Jahre ist er alt, ein junger Spieler von Borussia Düsseldorf, der ursprünglich als deutsche Nummer fünf mit zur EM nach Tschechien gereist war. Dort kam alles anders: Nach den Verletzungen von Dimitrij Ovtcharov und Bastian Steger rückte er ins deutsche Finalteam auf, das gegen Weißrussland die erste Goldmedaille gewann.

Baum trug den dritten Punkt bei, ein Ereignis, das ihn nachhaltig beflügelte: Der Jugend-Weltmeister von 2005 kämpfte sich erfolgreich durch die Einzelkonkurrenz, bezwang im Viertelfinale erstmals den weißrussischen Spitzenmann Wladimir Samsonow, lag dabei im vierten Satz bereits 3:9 zurück, bevor er den Durchgang doch noch 14:12 holte. Sichtlich baff und ungläubig sagte Baum: "Das ist ein großartiges Gefühl. Beim 9:6 im letzten Satz habe ich das erste Mal daran gedacht, dass ich ihn heute packen kann."

Baums Gefühlswelt sollte noch kräftiger erschüttert werden: Am Sonntag machte er zur Mittagsstunde den Einzug ins Finale perfekt, durch einen 4:3-Sieg gegen den Österreicher Werner Schlager. Das Endspiel verlor er Stunden später zwar erwartungsgemäß gegen seinen Teamkollegen Timo Boll (1:4), der im Halbfinale seinen Doppelpartner Christian Süß bezwungen hatte. Baums eigene Erwartungen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch längst übertroffen.

Die deutsche Dominanz im europäischen Tischtennis ist geradezu erdrückend. Drei Wettbewerbe, drei Goldmedaillen - so wie es dem Team bereits 2007 und 2008 gelang. Diesmal waren die Gegner noch chancenloser: Das Einzel-Endspiel war eine deutsche Angelegenheit, im Team-Finale hieß es 3:0 gegen Weißrussland. Im Doppel verloren Boll und Süß bis zum Finale (4:0 gegen die Dänen Sternberg/Groth) nur einen Satz und versuchten anschließend gar nicht, so etwas wie Bescheidenheit walten zu lassen.

Sie waren überaus konzentriert aufgetreten; keiner ihrer Gegner fand zu irgendeiner Zeit ins Spiel. Boll sagte: "Wir spielen einfach gut. Das war ein Finale, wie wir es mögen. Wir konnten sogar noch etwas Energie für die Einzel sparen." Der Weltranglistenzweite dominierte erneut die EM und holte zum dritten Mal nach 2007 und 2008 alle drei Goldmedaillen.

Entsprechend gelöst äußerte sich Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig: "Die Situation ist eindeutig. Wir können derzeit bestimmen, was im europäischen Männer-Tischtennis geschieht." Kaum auszudenken, wäre die ursprüngliche deutsche Nummer zwei, Dimitrij Ovtcharov, von seiner Sprunggelenksverletzung verschont geblieben und hätte die Erwartungen der Setzliste erfüllt. "Dann hätten wir vier Deutsche im Halbfinale gesehen", glaubt Schimmelpfennig.

Der große Traum für Oympia

Nicht ganz so überschwänglich ist die Bilanz bei den deutschen Frauen. Sie haben kein schlechtes EM-Turnier gespielt, standen in allen Konkurrenzen im Viertelfinale - aber gerade im Teamwettbewerb, als sie trotz mehrerer Matchbälle gegen Rumänien ausschieden, wäre mehr drin gewesen. "Das war die Schlüsselsituation. Wir haben dennoch gesehen, dass die Entwicklung in der Mannschaft stimmt", sagt Schimmelpfennig. Bei der WM 2011 in Rotterdam wird das junge Team ein Stück weiter sein, zuvorderst Kristin Silbereisen, 25, und Sabine Winter, 17, denen die Zukunft in dieser Sportart gehören dürfte.

Bei den deutschen Männern heißt diese Zukunft Patrick Baum. "Patrick hat nun die Gewissheit, dass er auch die Topspieler der Weltrangliste schlagen kann", sagt Schimmelpfennig. Dabei ist Baum ein anderer Typ als etwa Timo Boll, der schon in Baums Alter ein Ausnahmespieler war und bereits einige Chinesen geschlagen hatte. Bei Baum oder auch Süß ist das anders: Sie begannen ihre Entwicklung auf niedrigerem Niveau, mussten sich mit kleinen, stetigen Schritten nach oben arbeiten. Wie Süß ist Baum nun zumindest in der europäischen Spitze angelangt. Schimmelpfennig sagt: "Patrick lebt von seinem aggressiven, beidseitigen Spiel. Damit ist er ein Typ, der auch den Chinesen gefährlich werden kann."

Überhaupt, die Chinesen. Auffällig häufig war bei diesem Turnier von China die Rede - wohlgemerkt bei einer Europameisterschaft, die traditionell ohne die beste Tischtennis-Nation der Welt stattfindet. Doch während die deutschen Männer im Vorbeigehen alle drei EM-Titel mitnahmen, ging der Blick zu den Olympischen Spielen 2012 in London. Boll ist dann 31, Süß 27, Baum 25, Ovtcharov 24; selbst der neue Trainer Jörg Roßkopf, der ein höchst erfolgreiches Debüt bei einem großen Turnier feierte, hat dann vermutlich zwei Jahre Erfahrung als Cheftrainer. Roßkopf will dann nachholen, was seinerzeit als Spieler noch unmöglich war: mit dem deutschen Team China zu bezwingen.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2010
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