Tischtennis bei den European Championships:Geteilter Druck ist doppelter Druck

Tischtennis bei den European Championships: Sie sind noch da: Timo Boll feiert nach seinem Krimi gegen Samuel Kulczycki erleichtert mit dem Münchner Publikum.

Sie sind noch da: Timo Boll feiert nach seinem Krimi gegen Samuel Kulczycki erleichtert mit dem Münchner Publikum.

(Foto: Christian Kolbert/dpa)

Nach den enttäuschenden Doppelwettbewerben bleiben dem deutschen Tischtennisteam nur noch die Einzel, um aus der Heim-EM etwas Besonderes zu machen. Der Anfang gestaltet sich schwierig, aber er gelingt - auch dank Timo Bolls Nervenstärke.

Von Andreas Liebmann, München

Knapp eine Stunde blieb Zeit, bis er wieder zurück in die Halle musste. Knapp eine Stunde, um die riesige Enttäuschung abzustreifen und sich auf den ersten Gegner im Einzel bei diesen European Championships vorzubereiten. Dem Tischtennisprofi Dang Qiu, 25, war völlig klar, was in dieser kurzen Zeit im Hotel zu tun wäre: schlafen.

Es klappte dann nicht, die Gedanken ans verlorene Doppel-Viertelfinale ließen sich nicht vertreiben. In 2:3 Sätzen war der Düsseldorfer am Mittwochnachmittag mit Benedikt Duda an den Österreichern Daniel Habesohn und Robert Gardos gescheitert, die Aufholjagd nach 0:2-Satzrückstand endete im letzten Satz mit 11:13. Nach vielen brachialen Ballwechseln hatten letztlich unscheinbare, kurz hinters Netz gelegte Bälle die Entscheidung gebracht. Dieses Kurz-Kurz-Spiel ging den routinierten Österreichern am Ende lockerer von der Hand. Vielleicht die Erfahrung, sagte Habesohn. Beim Matchball meinte man zu erkennen, wie der Druck der Situation an Dudas Arm zerrte.

Der Sportdirektor betont die große Konkurrenz - und wie erfolgsverwöhnt man sei von der letzten EM

Diese Situation war es auch, die Qiu dann im Einzel ungewohnt emotional jubeln ließ, nach verwandeltem Matchball gegen den Türken Ibrahim Gündüz. Er habe sich nur noch ungenügend auf den Gegner und dessen gefährliche Aufschläge einstellen können, und streckenweise sah es nicht nach diesem 4:3-Sieg für den favorisierten Deutschen aus am Ende eines langen Arbeitstages. "Normal komme ich nicht so aus mir heraus, aber bei so einer Stimmung in der Halle, so einer Atmosphäre - mir sind doch sehr viele Steine vom Herzen gefallen", sagte er.

Mit der Stimmung war das so eine Sache am Mittwoch in der Rudi-Sedlmayer-Halle, denn für den Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) war es ein enttäuschender Tag. Als Dudas Topspin im Netz hängenblieb, war klar, dass von den fünf Disziplinen in München schon die zweite ohne deutsche Medaille enden würde. Unmittelbar darauf schieden Sabine Winter und Nina Mittelham als letztes deutsches Frauendoppel aus - Medaillenchance Nummer drei.

Schon vor dem Turnier hatte der DTTB betont, wie viel neue Konkurrenz ihm zurzeit in Europa heranwachse. Und bereits nach dem vorzeitigen Aus von Qiu/Mittelham und Winter/Duda im Mixed war auch DTTB-Sportdirektor Richard Prause mit vor die Presse geeilt, um zu betonen, dass man zwar "ein bisschen traurig" sei, aber von den letzten Europameisterschaften auch sehr verwöhnt. Mit anderen Worten: Es würde wohl nicht wieder Medaillen regnen wie zuletzt in Warschau (viermal Gold, dreimal Silber), zumal es in den Doppeln wichtige Ausfälle gab.

Tischtennis bei den European Championships: Das Doppel (mit Nina Mittelham, rechts) und das Mixed sind für Sabine Winter enttäuschend verlaufen, im Einzel hat die Lokalmatadorin das Publikum nun aber mitgerissen.

Das Doppel (mit Nina Mittelham, rechts) und das Mixed sind für Sabine Winter enttäuschend verlaufen, im Einzel hat die Lokalmatadorin das Publikum nun aber mitgerissen.

(Foto: Christian Kolbert/dpa)

Der Druck ergibt sich aber eben auch dadurch, dass nun mal ein euphorisches Heimpublikum in der Halle sitzt, das auf Erfolge hofft, und dass die Sportart selten so viel mediale Aufmerksamkeit abseits Olympischer Spiele genießt wie in diesen Tagen. Das führt nun zwangsläufig zu den verbliebenen Chancen im Einzel - und zu Timo Boll. Denn der erste Auftritt des Rekordeuropameisters am Mittwochabend hätte den bis dahin schlechten Tag um ein Haar zu einem Tag der Katastrophen für die Veranstalter anwachsen lassen. Mitten hinein in die gedrückte Stimmung begann nämlich der 20-jährige Pole Samuel Kulczycki, den 41-jährigen Boll nach allen Regeln der Kunst aus der Halle zu prügeln. Der Routinier schlug Luftlöcher, ihm versprangen Returns, und wohin auch immer der junge Partyschreck seine Angriffe platzierte, Boll sprang gerade schon ins andere Eck. Bei 1:3-Satzrückstand und einem 3:7 im fünften Satz blieb wenig Hoffnung. Dann gelangen Boll sechs Punkte in Serie.

Kein Radar, kein Touch, nur noch die Hoffnung auf ein Momentum: Timo Boll stand kurz vor dem Erstrunden-Aus

"Wer bei dem Rückstand noch an mich glaubt, der sollte kein Glücksspiel betreiben", empfahl Boll später und erklärte erleichtert, was geschehen war: "Ich weiß, dass es für so junge Spieler trotzdem schwer ist, zuzumachen, der Arm wird schwer, und mit jedem Punkt, den man näher rankommt, wird es noch schwieriger." Boll habe bis dahin "kein Radar" dafür gehabt, um mal einen schwierigen Ball vorauszuahnen, keinen Touch, nur noch die vage Hoffnung auf ein Momentum. Nachdem ihn Kulczycki zurückgelassen hatte in dieses Match, begann der Altmeister all sein Können zu zeigen. 11:9, 11:1, 11:5 - die Halle brodelte.

Heiß war es drinnen sowieso, aber das war es nicht, was Boll später an Alicante erinnerte. Auch dort zur EM 2018 war er nach einer Verletzungspause angereist und in Runde eins beinahe ausgeschieden. Später holte er den Titel.

Patrick Franziska und Dimitrij Ovtcharov meisterten am Abend ebenfalls ihre ersten Einsätze bei dieser EM, auch Duda und Qiu wahrten in ihrem dritten und letzten Wettbewerb alle Chancen. Und tags darauf führten die Frauen das Ganze fort. Han Ying und Shan Xiaona kamen ebenso souverän weiter wie Nina Mittelham (4:1 im rein deutschen Duell mit Yuan Wan) - und Sabine Winter imitierte Timo Boll. 1:7 lag sie im sechsten Satz zurück, drei Durchgänge hatte die Rumänin Irina Ciobanu da bereits gewonnen. Winter, die zweimalige Doppel-Europameisterin, ist die Lokalmatadorin, entsprechend verzweifelt feuerte das Publikum sie an - bis sie nach irren Wendungen und drei abgewehrten Matchbällen tatsächlich die Arme hochreißen konnte, genau wie ihre Familie auf der Tribüne. Wenn man bedenke, wie wichtig ihr dieses Turnier sei, sagte Winter, habe es sie selbst überrascht, wie gelassen sie in den kritischen Phasen blieb.

Die Stimmung und den Druck haben sie gemeinsam wieder in den Griff bekommen - und vielleicht sogar etwas Schlaf gefunden.

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