Timo Boll holt mit Team Bronze:Auferstanden an der Platte

Er wollte diese Medaille unbedingt: Tischtennisspieler Timo Boll war nach seiner frühen Einzelniederlage so verzweifelt, dass er einen Psychologen aufsuchen wollte. Nun ist er zurück - und hat das deutsche Team zu Bronze geführt.

Jürgen Schmieder, London

Das Olympische Dorf in London ist ein Stück Land, das derzeit in etwa so abgesichert ist wie Fort Knox oder das Bundeskanzleramt. Es gibt elektrische Zäune, grimmig dreinblickendes Wachpersonal - und selbst wer eine Einladung besitzt, der muss seinen Zugangspass insgesamt elf Mal vorzeigen. Dann muss er ihn tauschen gegen einen Gästeausweis und schließlich noch zwei Mal seine Tasche durchsuchen lassen.

Olympia 2012: Tischtennis, Timo Boll

Timo Boll führte das deutsche Tischtennisteam zu Bronze.

(Foto: dapd)

An zwei Tagen vor Beginn der Olympischen Spiele hatten auch jene Menschen in dieses Dorf gedurft, die nicht als Sportler, Trainer oder Betreuer akkreditiert waren - und an beiden Tagen empfing der Tischtennisspieler Timo Boll die deutschen Besucher. Er führte die Gäste herum, er sagte ein paar Belanglosigkeiten, beantwortete geduldig lächelnd Fragen nach Unterkunft und Verpflegung. Nur einmal, da blickte er ernst drein. Das war, als er auf die Möglichkeit angesprochen wurde, eine Medaille zu gewinnen bei den Olympischen Spielen.

Ja, das wäre schon was, sagte Boll dann, es seien schließlich seine vierten Olympischen Spiele - und wie immer gehöre er zu den Favoriten. Doch wie schon drei Mal zuvor scheiterte Boll, diesmal recht kläglich im Achtelfinale gegen Adrian Crisan. Boll war verzweifelt, zwei Tage lang, er erwägte gar den Besuch bei einem Psychologen.

Beim Team-Wettbewerb war Boll indes wieder präsent, es war vor allem ihm zu verdanken, dass sich die deutsche Mannschaft herausragend präsentierte und nun Bronze gewonnen hat.

"Das ist schon eine große Entschädigung", sagte der 31 Jahre alte Boll nach dem 3:1-Erfolg gegen Hongkong, "es ist auch eine Genugtuung zu wissen, dass man es nicht verlernt hat. Man kommt ja schnell auf den Gedanken, wenn man derart unter seinem Niveau spielt. Ich war erleichtert, den Aufwärtstrend zu spüren - und ab dem Halbfinale lief es dann herausragend."

In diesem Halbfinale hatte Boll Zhang Jike besiegt, den Olympiasieger im Einzel. Auch im Doppel hatte Boll mit seinem Partner Bastian Steger die beiden Einzel-Finalisten Wang Hao und Zhang Jike vor arge Probleme gestellt. "Es ist beeindruckend, wie er nach dieser riesigen Enttäuschung zurückgekommen ist", sagte Tischtennis-Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig.

Boll selbst sprach nicht mehr über Jammern und Selbstmitleid und Psychologen, er sagte lieber: "Egal, wer da vor uns steht: Wir werden sie auffressen."

Tatsächlich setzte Boll den Ton im Spiel um Platz drei gegen Hongkong, er agierte konzentriert und reaktionsschnell, ihm gelangen sehenswerte Konterschläge, in nur 23 Minuten besiegte er im ersten Einzel Leung Chu Yan. Sein Gegner sah nach dem Match seinen Trainer entschuldigend an, er hob die Schultern und deutete auf Boll: keine Chance, wenn der so spielt. Die zweite Partie dauerte dann doppelt so lange, Dimitrij Ovtcharov - Bronzegewinner im Einzel - behielt gegen Tang Peng in vier überaus spannenden Durchgängen die Nerven.

Eine Partie mit grotesken Zügen

Es passt zur Dramaturgie, dass Ovtcharov und Bastian Steger das Doppel verloren, denn so durfte Boll noch einmal an die Platte - gegen Jiang Tianyi, der im Einzel erst im Viertelfinale an Zhnag Jike gescheitert war. "Ein ganz unangenehmer Gegner, der kaum Emotionen zeigt, sondern humorlos die Bälle rüberspielt", sagte Boll.

Es entwickelte sich eine dramatische Partie, die manchmal groteske Züge annahm. Tischtennisspieler haben ja die Eigenart, vor einem Ballwechsel die Platte zu berühren, um die Schlaghand zu trocknen. Jeder will der Letzte sein, was im dritten Satz - es hieß 1:1 nach Durchgängen - dazu führte, dass Boll beim Stand von 9:9 den Tisch vier Mal anfasste und Jiang fünf Mal. Boll gab nach, gewann den Punkt trotzdem, den Satz ebenfalls und wenige Minuten später auch das Match.

Boll riss die Arme nach oben, dann wurde er von einen Kollegen hochgehoben, er tanzte durch die Halle. In diesem Moment, direkt nach dem Sieg, da wurde deutlich, wie erleichtert dieser Timo Boll war, dass er doch eine Medaille gewinnen konnte bei diesen Olympischen Spielen.

Nach Silber in Peking - dort waren die Deutschen den Chinesen erst im Finale begegnet - nun also Bronze. "Man muss diesen Erfolg schon in Relation setzen", sagte Schimmelpfennig danach, "zwölf Medaillen wurden vergeben, sechs gehen nach China, vier in den Rest Asiens - und zwei gehen nach Deutschland."

Timo Boll wollte nach dem Sieg zurück ins Olympische Dorf zurückfahren, vorbei an den Elektrozäunen, den grimmigen Wachen und den Kontrollen. Dann will er sich mit seiner Frau Rodelia treffen, um in der Stadt ein wenig zu feiern. "Es war sowohl psychisch als auch körperlich eine harte Zeit, für mich war ja Alkohol nun eineinhalb Jahre tabu", sagte Boll, "wahrscheinlich reichen jetzt ein, zwei Bierchen, um in Stimmung zu kommen."

Diese Bronzemedaille mit der Mannschaft, mit Erfolgen gegen den Einzel-Olympiasieger und andere starke Gegner, sie dürfte für Boll ebenso wertvoll sein wie eine Einzelmedaille.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: