Die Geschäftsstelle des Tischtennis-Erstligisten TSV Bad Königshofen ist vor geraumer Zeit umgezogen, vom historischen Kern der Kleinstadt in eine alte Sporthalle, die sich der Verein zu einem Trainingscenter umgebaut hat. Mit umgezogen ist neben diversem Mobiliar eine alte Hochglanzaufnahme, die nun hinter Glas auch in der neuen Umgebung einen Ehrenplatz hat. Man sieht darauf die Wettkampfstätte der Unterfranken, oder besser: Man sieht fast nichts von ihr. Denn die Totale des Innenraums zeigt einen Tischtennistisch auf rotem Boden in einer Schulsporthalle – und mehr als 1200 Menschen, die um die Box herum jedes noch so winzige Fleckchen ausfüllen.
Es muss das Jahr 2018 gewesen sein, zu Gast war Borussia Düsseldorf, und all die Menschen waren nicht nur gekommen, um ihren Aufsteiger gegen den Rekordmeister anzufeuern, sondern auch um ihn zu sehen: Timo Boll. „Das war ein unbeschreibliches Erlebnis“, erinnert sich Andreas Albert, der Teammanager der Unterfranken, „ich hätte nie gedacht, dass bei uns einmal ein Tischtennisspiel vor einer solchen Kulisse stattfinden würde.“

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An diesem Sonntag, sieben Jahre später, ist dieselbe Halle erneut ausverkauft, erneut ist Borussia Düsseldorf zu Gast. Man könnte die alte Aufnahme vermutlich täuschend echt nachstellen. Ein paar Dinge sind trotzdem anders. 2018 hatte der Reiz des Neuen die Halle gefüllt: erstmals in der Tischtennis-Bundesliga (TTBL) den Branchenprimus empfangen, erstmals Boll live erleben – auch wenn der dann gar nicht antreten konnte wegen einer Bronchitis. Am Sonntag dagegen wird Wehmut zu spüren sein, denn Timo Boll, der Rekordeuropameister, absolviert nach dem Ende seiner internationalen Karriere gerade sein Abschiedsjahr in der TTBL. Überall, wo er auftaucht, ist er nun zum letzten Mal, auch in Bad Königshofen, wohin er wegen der besonderen Stimmung immer besonders gern gereist war, meist mit dem Wohnmobil.
Bei jedem Auswärtsspiel mit Boll liegen die Zuschauerzahlen nun weit über dem Schnitt, seine besondere Karriere wird honoriert. „Meist gibt es eine schöne Ansprache, oft ein Geschenk“, erzählt Boll, die Vereine ließen sich einiges einfallen. Wer ihn kenne, wisse, dass ihm so viel Aufmerksamkeit eher unangenehm sei, andererseits wisse er: „Diese Momente werde ich in Erinnerung behalten.“ Auch die Unterfranken haben ein Geschenk vorbereitet und eine Laudatio.
„An guten Tagen kann ich auch gegen einen Top-Ten-Spieler gewinnen“, sagt Boll
Allerdings, und diesen Unterschied zu früher will Albert betonen, ist das Duell am Sonntag auch von so großer sportlicher Relevanz, dass die Fans des TSV sicher nicht nur kommen, um eine Legende zu verabschieden – sondern um ihren Klub zum Sieg zu treiben. Beide Teams bilden nach 15 von 22 Spieltagen gemeinsam mit Ochsenhausen ein punktgleiches Trio an der Tabellenspitze. Es geht also um etwas. Das betont auch Boll.
Bad Königshofen könnte zum zweiten Mal in der Klubhistorie die Playoffs erreichen. Für den kleinen Verein wäre das ein riesiger Erfolg, zumal dem ohnehin kleinen Kader neben dem dauerabsenten Kilian Ort (Bandscheibenschaden) zwischenzeitlich noch Routinier Bastian Steger ausgefallen war. Vielleicht ist es sogar eine einmalige Chance – wer weiß schon, ob es nicht nächstes Jahr gegen den Abstieg geht? Auf Orts Genesung deutet leider wenig hin, der starke Jin Ueda wird im Sommer nach Japan heimkehren, und Martin Allegro, der Doppelspezialist, nach Grenzau wechseln. Es wird ein gravierender Umbruch.
Allegro übrigens, der einst zunächst für Jülich und Jahre später für Bad Königshofen 33 Einzelniederlagen nacheinander kassierte, bis ihm sein allererster Sieg in der TTBL glückte, schaffte es in der Vorrunde doch tatsächlich, den großen Boll in fünf Sätzen zu bezwingen. Auch das ist etwas, das sich im Vergleich zu 2018 geändert hat. Mit fast 44 ist Boll sportlich angreifbar. Seine aktuelle TTBL-Bilanz steht bei 8:8. „An guten Tagen kann ich auch gegen einen Top-Ten-Spieler gewinnen“, sagt Boll, „aber es wird immer schwerer, dieses Niveau zu erreichen – das ist ja der Grund, weshalb ich aufhöre.“ Dem Perfektionisten in ihm schmecke das gar nicht, er versuche aber, das Beste daraus zu machen. Auch Boll muss sich also strecken für einen angemessenen sportlichen Abschied. Kaum auszudenken, würde Düsseldorf die Playoffs verpassen. Aber noch sieht es ja gut aus.
Und, ja: Es ist sogar möglich, dass beide Teams im Playoff-Halbfinale erneut aufeinandertreffen. Dann würde Boll doch noch mal nach Bad Königshofen kommen. Geschenke gäbe es keine mehr, aber sicher wieder eine volle Halle.