Während die Spieler des 1. FC Union im Mai 2019 ihren Aufstieg feierten, hatte der damalige Berliner Mittelfeldmann Manuel Schmiedebach einen interessanten Einfall: Wie wäre es, diesen Moment mit dem Trainer Tim Walter zu teilen? Die Berliner standen auf einer Bühne, Partysound dröhnte durchs Stadion An der Alten Försterei, und aus riesengroßen Biergläsern war bereits der ein oder andere Schluck entnommen worden. Schmiedebach hob sein Handy ans Mikrophon und startete einen Facetime-Anruf bei Walter, um ihm vor versammeltem Publikum eine Art Entschuldigung zu übermitteln: Dafür, dass sie, die erzkonservativen Unioner, es gewagt hatten, in die erste Liga aufzusteigen, ohne Fußball zu spielen. Denn diesen Tabubruch hatten sie aus Tim Walters Sicht begangen: Am Fußballspielen sei Union ohnehin „nicht interessiert“, hatte der damalige Coach von Holstein Kiel wenige Monate zuvor geschimpft. Nach einer 0:2-Niederlage seines Teams, wohlgemerkt. Schmiedebach konnte Walter zwar nicht erreichen, er teilte seine Botschaft dennoch mit den Feierwütigen: „Hier sind die, die nicht Fußball spielen können, aber trotzdem aufgestiegen sind!“
Fünf Jahre nach dieser Episode hat Tim Walter weiterhin noch kein Spiel in einer ersten Liga gecoacht, wohingegen Union, wohl nur aus Versehen, seitdem unter anderem in einem Champions-League-Auswärtsspiel bei Real Madrid den Fußball boykottieren durfte. In derselben Woche verlor Walter, der einen radikalen Offensivstil mit dem Markennamen „Walterball“ lehrt, mit dem Hamburger SV in Elversberg und Osnabrück.
Einer Meldung von Mittwoch nach zu urteilen, hat Walterball nun auch außerhalb der deutschen Landesgrenzen nicht nachhaltig funktioniert: Walter, 49, wurde soeben nach 149 Tagen als Trainer von Hull City entlassen. Der englische Zweitligist, mit Aufstiegsambitionen in die Saison gestartet, war zuletzt bis auf den 22. Platz abgerutscht und konnte mit Walter nur drei Partien gewinnen, Freundschaftsspiele inklusive. Die Fans hatten für ihn zuletzt vor allem Schmähgesänge übrig. Und die Hull Daily Mail verfertigte einen niederschmetternden Krisenreport über Walters Wirken auf der Insel, in dem neben Schilderungen atmosphärischer Störungen auch ein inhaltliches Fazit gezogen wurde. Es lautet: „Seine Philosophie liegt in Trümmern.“
Walter wollte seinen Radikalansatz nie den Begebenheiten anpassen – und zahlt erneut einen Preis dafür
Nun wäre es ein Leichtes, einen soeben vor die Tür gesetzten Profitrainer mit Häme zu übergießen, was hier ausdrücklich nicht geschehen soll. Dennoch lässt sich aus Walters Karriereweg eine große und eine kleine Erkenntnis ableiten. Die kleine: Mal wieder gibt der HSV kein gutes Bild ab, weil er der einzige Verein war, der Walter zweieinhalb Jahre die Mission Aufstieg anvertraut hatte, bekanntlich ohne Erfolg. Sonst durfte er nur noch in Kiel überhaupt mal eine Saison lang im Amt bleiben. Beim VfB Stuttgart und jetzt in Hull hielt man eine Trennung vor Weihnachten für angemessen.
Die große Erkenntnis wiederum ist grundsätzlicher Natur: In Hamburg trennte man sich von Walter wegen der (nicht allzu überraschenden) Beobachtung, er würde stets „in alte Muster“ verfallen. Im erweiterten Klubumfeld war sogar von einer Tendenz zur „Selbstverwirklichung“ die Rede. Walter hält seine grundsätzlich spannende Spielidee für die einzig wahre Lehre – und sich selbst, seinen öffentlichen Auftritten zufolge, für den einzig wahren Lehrmeister. Seinen Radikalansatz den Begebenheiten anpassen wollte er jedoch nie. Stattdessen wurde bei ihm derart vehement auf Balance und Restverteidigung verzichtet, dass Gegenspieler andauernd allein aufs eigene Tor zusausten. Zeitweise kann das unterhaltsam sein. Auf Dauer erfolgreich ist es nicht.
Dass Dogmatismus nichts bringt, zeigt aktuell ausgerechnet ein Trainer, der bis vor Kurzem als purer Dogmatiker galt: Gerhard Struber hat beim 1. FC Köln einen erstaunlichen Stilwechsel vollzogen, vom ungestümen Vorwärtsverteidungsfußball zu einem vermeintlich drögen Defensivstil. Die zuvor durchwachsenen Ergebnisse stimmen seither. Die Kölner Mannschaft scheint auf diesen Stabilitätspakt, zumindest vorübergehend, angewiesen zu sein. Und seinen Job durfte der zuvor heftig in der Kritik stehende Struber dadurch auch behalten.