Süddeutsche Zeitung

Bayern-Gegner Tigres bei der Klub-WM:Tucas Traum von der Rasur

Für Tore sorgt der Franzose Gignac, für gute und schlechte Laune der Langzeit-Trainer Ferretti. Der Brasilianer würde mit einem Finalsieg von UANL Tigres gegen die Bayern zu Mexikos erfolgreichstem Coach aufsteigen.

Von Javier Cáceres

Ricardo Tuca Ferretti, 66, ist Träger eines Oberlippenbarts, der längst emblematischen Charakter hat. Als Tuca vor gut einem halben Jahr sein zehntes Jubiläum als Trainer von Tigres feierte, dem Gegner des FC Bayern im Klub-WM-Finale, verpasste der Verein dem stilisierten Tiger, der im Klubwappen zu sehen ist, einen Schnäuzer. Hin und wieder war der Bart bei "Tuca" aber ab, genauer gesagt: nach diversen Titelgewinnen. Dann zückten seine Spieler einen Barthaarschneider - und rasierten ihren Chef.

Nach Tigres' bislang letztem Finalsieg, 2020 im Champions-League-Finale des Kontinentalverbandes Concacaf in Orlando/USA, blieb Ferrettis Schnäuzer dran. Mit der Tradition sei ohne Grund gebrochen worden, berichtete ein Teil der Tigres-Delegation am Vorabend des Endspiels gegen die Bayern. Der andere Teil hingegen versicherte, die Messer würden noch gewetzt: "Wir haben uns das für Donnerstag aufgespart", sagte ein Mitglied des Trainerteams.

Eine Rasur, gewissermaßen als Krönung für einen Brasilianer mit mexikanischem Herzen und Reisepass? "Fufffffff!!!!", schnauft der einstige mexikanische Mittelfeldspieler Pavel Pardo, 2007 Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart, in Guadalajara ins Telefon. Er gibt zu bedenken, was sie südlich der rund 3150 Kilometer langen Grenze mit den USA mehrheitlich denken dürften: "Wir alle wissen um die Macht der Bayern." Doch Pardo schiebt eine Relativierung hinterher: "Aber: Es ist Fußball!" Und davon, so viel steht fest, versteht Ferretti eine Menge.

Ferretti kam als Mittelfeldspieler nach Mexiko, mehr als 40 Jahre ist das her. Er hatte in Brasilien bei Botafogo, Vasco da Gama und Bonsucesso gespielt. 1977 heuerte er bei Atlas Guadalajara an, es folgten weitere Engagements bei mexikanischen Großklubs. Nach einem Abstieg kurzzeitig arbeitslos, schlief er auf der Straße. Doch er kämpfte sich zurück, vornehmlich mit der Macht seines rechten Beines - seine Tore, die man bei Youtube findet, sind naturgewaltige Spektakel. 1991 wurde Ferretti Trainer. Und er wurde zum Phänomen in seinem Berufsstand, gerade in der Hektik Mexikos. Denn Ferretti ist in seiner bald 30-jährigen Laufbahn im Grunde jeden Tag beschäftigt gewesen - und wurde nie entlassen.

Seine bereits zehn Jahre bei Tigres zeugen von einer fast beispiellosen Kontinuität, unterbrochen nur von sporadischen Einsätzen als Aushilfscoach der mexikanischen Nationalelf, deren feste Leitung er er vor Jahren mal abgelehnt hatte ("eher werde ich Straßenfeger"). Ferretti sei ein "Siegertyp mit einer wahnsinnigen Überzeugungskraft", sagt einer seiner engsten Mitarbeiter aus dem Trainerstab, "aufrecht und direkt".

Die Erfolge sprechen für sich: Tuca hat bislang 14 Titel geholt, zwölf mit Tigres, die Champions League inbegriffen. Nur ein Coach gewann in Mexikos Fußballgeschichte bislang eine Trophäe mehr: Nacho Trelles, der im März 2020 nach Herzinfarkt verstarb, im Alter von 103 Jahren.

"Er arbeitet obsessiv daran, seine Spieler technisch und taktisch weiterzubringen."

Zuletzt gab es in Mexiko keine erfolgreichere Mannschaft als Tigres. "Sie dominieren alles", sagt Pardo, "Tigres hat sicher einen der teuersten Kader des Landes. Aber Ferretti schafft es Jahr für Jahr, den Mannschaften sein Siegel zu verpassen." Was das bedeute? "Er hat immer Spieler von großer Qualität verpflichtet, denn seine Mannschaften zeichnen sich durch gute Ballbehandlung aus, durch geduldiges Passspiel, starke Spieler auf der Außenbahn und durch defensive Ordnung. Er ist ein Trainer, der obsessiv daran arbeitet, seine Teams technisch und taktisch weiterzubringen."

Im Halbfinale der Klub-WM gegen die Brasilianer von Palmeiras ging diese Ordnung nach dem 1:0 (54.) des französischen Mittelstürmers und unumstrittenen Stars, André-Pierre Gignac, zwar mitunter verloren. Aber die Abwehr um Torwart Nahuel Guzmán, 34, und Innenverteidiger Carlos "Titán" Salcedo hielt stand. Salcedo? Ja, genau der Salcedo, der bis 2019 bei Frankfurt in der Bundesliga spielte - und schon im Januar tönte: "Ich weiß, wie man ein Finale gegen den FC Bayern gewinnt." In Berlin hatte er 2018 mit der Eintracht den DFB-Pokal gegen die Münchner geholt.

Auch an Salcedo lässt sich beispielhaft erklären, dass "Tuca" als Psychologe taugt. Seine Rückkehr nach Mexiko hatte er anfangs wohl als Rückschritt empfunden; seine Leistungen litten unter mangelnder Motivation. Im Tigres-Stadion wurde Salcedo ausgepfiffen, was nicht angenehm sein dürfte. Nun ist er aber wieder der "Titán" im "Volcán", wie das Stadion genannt wird.

"Vulkan" wäre auch ein passender Name für Ferretti, der deshalb "Tuca" heißt, weil dies das erste Wort gewesen sein soll, das er als Kind über die Lippen brachte. Seine Eruptionen sind legendär, in der brasilianischen Zeitung Folha hieß es dieser Tage, er sei "o brasileiro malhumorado", der schlechtgelaunte Brasilianer. Diesen Eindruck kann man bei oberflächlicher Betrachtung gewinnen. Tuca soll zu Gignac zum Einstand gesagt haben: "Damit du dich hinterher nicht erschreckst: Ich bin ein Arsch." Der Franzose gab Kontra: "Ich noch mehr." Seither liegen sie einander vergnügt in den Armen.

Mit den Medien ist es nicht so harmonisch. Vor fünf Jahren drehte Ferretti nach einer Pokalniederlage in der Pressekonferenz durch, weil ein Reporter das Mikrofon an sich riss, statt es einer Journalistin zu überlassen. "Bei mir haben immer die Damen Vortritt", wetterte Tuca - und verließ den Saal, als er sich nicht durchsetzen konnte, obwohl er laut geworden war und die flache Hand auf den Tisch geknallt hatte: "Ich komme wieder, wenn dieses Arschloch ruhig ist", brüllte er.

Ebenso legendär ist ein Mitschnitt aus einem Tigres-Schusstraining, bei dem Ferretti die Nerven verlor und sich als vollwertiges Mitglied der mexikanischen Gesellschaft erwies, als er die ganze Vielfalt wirklich aller sexuell eingefärbten Injurien zur Blüte brachte ("¡Chinga tu madre"!) und die liebsten Vorfahren seiner Spieler beleidigte. Dessen ungeachtet, gilt er im direkten Austausch als umgänglich und als charmanter Plauderer.

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